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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Jenseitswelt - wann immer er auf die Reise ging, fand er die Lüfte über Transbaikalien voll fliegender Schamanen! Diese Welt war ihm so wohlbekannt wie die andere, in der er zeitweilig Anker geworfen hatte, um die Theorie einer anderen Welt mit Walser zu besprechen, und jene Welt und diese Welt mußten doch sicherlich dieselbe Welt sein wie die, die Walser in seiner Trance besuchte, denn alle Welten waren einzig und unteilbar.
    Und das war’s. Ende der Diskussion. Der Schamane begann seinen Bären zu liebkosen.
    Doch Walser wanderte eines Tags den Bahndamm entlang und fand dort einen kleinen Jungen des Stammes auf einem Baumstumpf im Schnee hocken, die Augen in die Ferne gerichtet, wo sich ein Fleckchen Rauch eines abfahrenden Zuges langsam auflöste. Und auf dem Gesicht dieses Kindes sah Walser einen Ausdruck von Sehnsucht, der ihn rührte und der, mehr noch, sein Gedächtnis reizte, denn er kannte diesen Gesichtsausdruck, nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Nur einen Moment lang war er wieder der flachshaarige kleine Straßenläufer, der vor einem Vierteljahrhundert auf die schwellenden Segel, die rauchspeienden Kamine der Schiffe gestarrt hatte, die aus der Bucht von San Francisco nach den vier Ecken der Welt ausfuhren.
    Und so erinnerte er sich an das Meer. Als er sich an die landlose Öde erinnerte, die grenzenlose Freiheit der ewig hin und her ziehenden Wasser, an die Fuge der Meerestiefen, wußte er, daß der Schamane all dies nie glauben könnte. Der Schamane lebte so tief im Landesinneren, daß er ein Ruder, hätte er je eins gesehen, in der Tat für einen Dreschflegel gehalten hätte. Und diese Vision konnte er nicht interpretieren, er konnte nicht entscheiden, was die See zu bedeuten hatte - wenn er auch in dem Maße, in dem seine Beherrschung der Sprache des Schamanen wuchs, gelegentlich versuchte, das Traummaterial von Tag zu Tag zu deuten.
    »Ich kann einen Mann sehen, der ein -« (er tastete nach einem Wort) - »ein Schwein trägt. Du weißt nicht, was ein Schwein ist? Ein kleines Tier, gut zu essen. Der obere Teil dieses Mannes ahmt den Sternenhimmel nach. Der untere Teil mit seinem parallelen Liniensystem bedeutet vielleicht... gefällte Bäume... Er bringt Licht, und er bringt Nahrung, aber wie es scheint auch... Zerstörung...«
    Walser hatte gelernt, in Bildern zu reden, um dem Schamanen seine Visionen mitzuteilen, daß er sie verstehen konnte, doch er verstand sie auch auf seine Art. Er identifizierte das »kleine, wohlschmeckende Tier« als den Bären, den Walser beinahe ebensosehr liebte wie er selbst, und deutete deshalb diesen Traum als denjenigen, mit dem die Geister Walser zum Scharfrichter des Bären bestimmt hatten, denn dessen Zeit rückte näher. Die Geister mußten den Traum auch genutzt haben, um ein Schamanenkostüm für Walser zu bestellen.
    Der Schamane schnitt deshalb ein Kleid aus Elchhaut und schnitt einige Sterne aus den Resten einer alten Rindfleischdose aus, die er in R. gefunden hatte. Er ging zu einer Cousine ersten Grades, die ihre Arbeit als Hirtin damit verband, daß sie die Hebamme und weise Frau des Dorfes war, und er bat sie, das Elchhautkleid zu nähen und die Blechsterne auf die Brust zu heften. Sie erklärte sich dazu bereit und erledigte ihren Auftrag in der Zeit, die ihr neben den komplexen Ritualen blieb, welche die Geburt des ersten Kindes ihrer ältesten Tochter umgaben. Diese Rituale waren besonders kompliziert, da Geburten in ihrer Gemeinschaft in jenen Tagen recht selten geworden waren und es notwendig war, die Geister zu täuschen - sie davon zu überzeugen, daß in Wirklichkeit gar keine Geburt stattgefunden hatte, damit sie nicht kamen und den kleinen Neuankömmling stahlen und so die Bevölkerung jener, nicht dieser Welt vermehrten.
    Walser saß vor dem Ofen und dachte an die Sterne und die Streifen und sang:
    Oh, say can you see
    By the dawn’s early light...
    Er versuchte, das Lied für den Schamanen zu übersetzen, doch die Worte fehlten ihm, und er sang auf amerikanisch weiter. Der Schamane hörte ihn gerne singen, wenn es auch in seinen Ohren äußerst mißtönend und krächzend klang - ein weiterer Beweis, was die Geister alles für Überraschungen bereithielten, für jemand wie ihn. Er sang denn gerne mit Walser zusammen, vor allem nach einem Gläschen Pisse, und umschrieb die fremden Melodien hie und da mit einer Viertelnote eigener Auffassung.
    But the rockets’ red glare,
    Bombs bursting in air -
    Doch nein! Die Fahne war nicht

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