Nächte im Zirkus
rief er. Und dann mit frohem Wiedererkennen: »Walser! Ich Walser!«
Und ließ den Bär los, um sich auf die Brust zu schlagen.
»Walser ist ich!«
Der Schamane verstand vollkommen, und dieses eine Mal auch richtig. Er freute sich sehr, als sein Lehrling in seiner Ekstase einen barbarischen Tanz aufführte und, wiederum in einer Ekstase, sich seinen Berufsnamen gab. Walser würde schon bald, sehr bald sein Debut als Zauberer geben können. Der Schamane spannte die vorbereitete Rentierhaut über den Reifen der Trommel und ließ sie zum Trocknen liegen. Der Schamane schnitzte einen Trommelschlegel aus Erlenholz, fing einen Hasen, häutete ihn und überzog den Schlegel mit dem Fell, das zu dieser Jahreszeit weiß war wie der Schnee, der überall lag. Nun blieb nur noch, geduldig zu warten, bis Walser die Zeichen aufwies, den Schaum vor dem Mund, das Stürzen, die Schreie, die zeigen würden, daß er bereit war, sein Trommeln zu beginnen.
Walser fing nun selbst, ohne es zu wollen, ein paar Brocken der Sprache des Schamanen auf, wenn diese auch hart und klumpig war, starrend vor Ks und Ts, voller Glottallaute, all der klickenden, schluckenden Geräusche der Axt im Holz und der Stiefel im Schnee. In der zufälligen und doch funktionalen Weise, in der ein Kind sprechen lernt, lernte er zuerst Hauptwörter: Hunger, Durst, Schlaf. Dann eignete er sich eine rasch wachsende Zahl der vierundsiebzig Wörter an, die in jener Sprache »kalt« bedeuteten. Nicht lange, und er wagte sich in die Schnörkel ihrer Grammatik.
Seine allmähliche Eroberung der Sprache des Schamanen begründete einen Konflikt in ihm, denn seine Erinnerungen oder seine Träume (oder was immer es war) enthielten ihr Drama in einer durchaus anderen Sprache. Wenn er diese laut sprach, wandte der Schamane ihm viel größere Aufmerksamkeit zu, als wenn er in seinem Proto-Finnougrisch noch ein Glas Tee haben wollte, denn der Schamane setzte voraus, daß Walsers englische Erinnerungen den astralen Diskurs darstellten, den er nun seiner eigenen umfassenden Hypothese entsprechend interpretieren mußte - eine Reihe von Rätseln, die mit Hilfe von Meditation und des Destillats, mit welchem er Walser weiterhin versorgte, sich völlig lösen ließen.
Der Schamane hörte besonders aufmerksam auf das, was Walser nach einem Traum sagte, weil es den schmalen Rand auflöste, den der Schamane zwischen wirklich und unwirklich wahrnahm - wenn der Schamane selbst es auch nicht so formuliert hätte, da er nur den Rand erkannte, schmal wie eine Stufe, der zwischen einer Wirklichkeitsebene und der nächsten lag. Er machte keinen kategorischen Unterschied zwischen Sehen und Glauben. Man könnte sagen, daß für die Menschen dieser Region kein Unterschied zwischen Tatsachen und Fiktionen da war - statt dessen eine Art magischer Realismus. Seltsames Schicksal für einen Journalisten, sich in einer Gegend wiederzufinden, in der als solche keine Fakten existieren! Nicht daß Walser noch gewußt hätte, was ein Journalist ist. Mehr und mehr drangen Erinnerungen auf ihn ein. Er wußte es nicht, doch sein Kopf wurde von Tag zu Tag klarer (er krähte nicht mehr wie ein Hahn), doch seine Erinnerungen waren ihm unverständlich, bis sie ihm der Schamane auslegte.
Der Schamane brachte mühelos die Leichtigkeit, mit welcher Walser in Zungen redete, mit den Prinzipien seiner eigenen komplexen Philosophie in Zusammenhang. Wenn aber Walser auch die Auffassung akzeptierte, daß er ein ungewöhnlich begabter Träumer war - denn dies war die einzige Theorie, die ihm zur Erklärung seiner Unterschiedlichkeit zur Verfügung stand -, so hielt er doch manchmal inne, wie bei der Wiederentdeckung seines Namens:
»Gibt es, wie ich es mir zuweilen vorstelle, eine Welt jenseits dieses Ortes?«
Dann versank er in unruhiges Grübeln. So kam Walser zu einem »Innenleben«, einem Bereich der Spekulation und Ahnung in sich, der ganz ihm gehörte. Wenn er einst, bevor er mit dem Zirkus davonzog, um die Vogel-Frau zu verfolgen, wie ein möbliert zu vermietendes Haus gewesen war, so war er nun endlich bewohnt, wenn auch dieser innere Bewohner substanzlos war wie ein Phantom und manchmal tagelang verschwand.
Doch unter den Umständen war es sinnlos, nach einer Welt jenseits von hier zu fragen - denn der Schamane wußte ja, daß es sie gab! Besuchte er sie nicht dauernd? Während der Trance, zu welcher er eine vererbte Anlage hatte, reiste er oft dorthin. Der Schamane war nicht allein vertraut mit dieser
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