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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Gebüsch fallen sehen, doch als er das Bärenbaby erreicht hatte, waren Wiege wie Schnur verschwunden. Er brachte den Kleinen in seiner Fetisch-Tasche nach Hause und gab ihm als Schnuller einen mit Rentiermilch getränkten Lappen. Als der junge Bär feste Nahrung zu sich nehmen konnte, aß er, was der Schamane aß - Süßwasserfisch, Brei, Wild. Bärensteaks würde man ihm erst darreichen, wenn er tot war.
    Der Schamane durchbohrte dem Bärenjungen das Ohr und schenkte ihm ein kupfernes Ohrgehänge, damit er schön aussah, und auch ein Kupferhalsband und ein Kupferarmband für die linke Pfote. An seinem ersten Geburtstag würde er zur Götterhütte geführt werden, wo man ihm vor einem bärengestaltigen Idol die Kehle durchschneiden würde, das auf einem hohen Hügel aus den Schädeln jener Bären saß, denen dieses Schicksal schon zuteil geworden war.
    Der Schamane tat dies nicht selbst. Der Scharfrichter für den Bären wurde von den Geistern unter den Dorfbewohnern ausgewählt, die ihren Entschluß in Träumen oder durch andere außerirdische Mittel kundtaten, und der Schamane war froh darüber, da er stets so enge Beziehungen mit den Bären hatte, daß es ihm das Herz gebrochen hätte, sie zu töten, wenngleich er wußte, daß alles zum besten geschah. Das ganze Dorf drängte sich in die Götterhütte, um der Zeremonie zuzusehen, laut klagend und sich überschwenglich entschuldigend: »Armer Petz! Es tut uns so leid. Wie wir dich liebhaben, armer kleiner Petz! Wie hart es uns ankommt, dir das anzutun!« Dann schnitt man dem Bären den Kopf ab, und der Rest wurde über einem offenen Feuer gebraten. Der abgetrennte Kopf - immer noch mit den kupfernen Ohrgehängen - wurde in die Mitte der gemeinsamen Tafel gestellt und die ausgesuchtesten Leckerbissen, die Leber, das Broschen, das zarte Fleisch der Lenden und Hinterbacken wurden vor der blutenden Reliquie serviert, während alle anderen sich den Rest des Bären schmecken ließen. Die Teilnehmer dieser sibirischen Sakramentalfeier taten so, als bemerkten sie nicht, daß der, dem man das Festmahl verdankte, selbst nie einen Bissen anrührte.
    Petz, nun frei von seiner fleischlichen Hülle, würde Botschaften zu den Toten tragen; wer von ihm aß, würde an der Kraft und dem Mut des Bären teilhaben, und außerdem - da der Tod in dieser Theologie nicht geradezu Sterblichkeit bedeutete - würde Petz bald wieder aufstehen und von neuem geboren werden, wieder gefangen, wieder aufgezogen, wieder getötet werden in einem Zyklus immerwährender Wiederkehr.
    Und er schmeckte so gut!
    Wenn das Fleisch vom Schädel abgekocht war, flog dieser auf den Haufen in der Götterhütte, der, einmal gezählt, das überaus hohe Alter dieses Brauches verkündet hätte. Doch niemand zählte je den Schädelhaufen, da keiner unter ihnen wußte, wie sich die Vergangenheit von der Gegenwart unterschied. Sie waren sich auch nicht sicher, wo der Unterschied bei der Zukunft lag. Mittlerweile lebte der Bär in glücklicher Unwissenheit weiter.
    Walser teilte mit dem Schamanen und dem Bären ein großes Messingbett, das der Schamane, damit nichts umkomme, vom Müllhaufen am Bahnhof von R. geholt hatte. Bald teilte Walser auch das Ungeziefer des Bären.
    Der Schamane glaubte, daß Bären zu allen anderen Tieren des Waldes reden konnten, und daß früher oder später sein Bär ein sinnvolles Gespräch mit Walser beginnen würde, doch die Zeit verging, und der junge Mann und der Bär kamen zwar sehr gut miteinander aus, doch sie unterhielten sich nicht. Doch da es nichts anderes zu tun gab und ihm die Zeit an den Abenden lang wurde, lehrte Walser den Bären das Tanzen. Einem tiefen, beinahe instinktmäßigen Impuls folgend, führte Walser, wenn auch der Bär ebenfalls männlich war.
    Als der Bär es das erste Mal richtig machte, fiel ein weiteres Stückchen des Puzzles von Walsers Vergangenheit in das Chaos seiner Gegenwart, wenn auch das Puzzle nicht nur unvollständig, sondern noch nicht einmal als Puzzle erkannt worden war. Er und der Bär kreisten durch die Hütte. Seine Füße wußten besser als sein Kopf, was er tat, und gehorchten den Befehlen eines sonst vergessenen Rhythmus: eins, zwei, drei, eins, zwei, drei... Er und der brummende Bär beschrieben ihre Kreise auf dem Hüttenboden vor dem Ofen, auf dem der getrocknete Wacholder knackte und qualmte, wie er einst mit einem anderen krallenbewehrten Raubtier durch das Sägemehl getanzt war. Wie er einst den Tanz getanzt hatte, den -
    »Walzer!«

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