Nächte im Zirkus
Walsers Augen wurden starr.
»Hamburger«, sagte er versonnen. Der Schamane spitzte die Ohren. Walser schlenderte Geschmackserinnerungen nach; wer weiß, was für eine Litanei der Schamane ihn rezitieren zu hören glaubte?
»Fischsuppe.« Walsers Gesicht war der Spiegel seiner Erinnerungen, er schnitt eine Grimasse. Er versuchte es wieder. »Weihnachtsessen...«
Sein Gesicht verzerrte sich, und er jammerte auf. Die Worte »Weihnachtsessen« erinnerten ihn an etwas Entsetzliches, an eine furchtbare Gefahr; sie erinnerten ihn an den Hauptgang, sie erinnerten ihn an... »Kikeriki!«
Er schrie laut, von fürchterlichen, wenn auch unverständlichen Erinnerungen bedrängt, dann verfiel er in ein hallendes Schweigen, bis ihm ein glücklicherer Gedanke kam:
»Aalpastete und Kartoffelbrei.«
Hier lächelte er breit und rieb sich den Bauch. Mit gespannter Aufmerksamkeit goß ihm der Schamane, der Zeichendeuter, noch mehr Brühe ein und wartete auf weitere Enthüllungen.
»Aalpastete und Kartoffelbrei, junger Mann!« sagte Walser kennerisch.
Der Schamane entschied, daß Walser offenbar meinte, nun sei der Zeitpunkt da, wo man ihm eine Schamanentrommel machen müßte. Am nächsten Morgen verband er Walser die Augen mit einem Streifen Rentierhaut, packte ihn in warme Kleidung, führte ihn hinaus und drehte ihn dreimal auf der Stelle im Kreis, um seine Orientierung zu verwirren; dann gab er ihm einen kräftigen Stoß. Walser stolperte davon, der Schamane folgte ihm mit der Axt über der Schulter, angespannt lauschend, wie ihm die leisen Stimmen von Lärche, Birke, Tanne liebevolle kleine Botschaften zuflüsterten.
Walser wanderte unsicher voran, geplagt von zunehmend unangenehmen Reisen, die seine Phantasie augenlos hinter der Binde unternahm, bis er hätte schwören können, daß er im dröhnenden Sausen des Windes durchs Unterholz das Schallen eines einzigen Wortes hörte: »Mörderisch!«
Da riß sich Walser die Binde vom Gesicht und gab dem Schamanen eins auf die Nase. Doch der Schamane rechnete zuversichtlich mit irrationalem Benehmen und schlug zurück, wenn er auch dazu in die Höhe springen mußte, da Walser viel größer war als er. Danach ließ er jedoch Walser ohne die Binde weitertrotten.
Nach einer Weile hörte der Schamane ein leises, hartnäckiges Klopfen. Walser, der nichts hörte - und in der Tat gab es nichts zu hören -, beobachtete aus dem Augenwinkel mißtrauisch, wie der Schamane zu einem Baum ging, dessen Namen Walser nicht kannte, und das Ohr an den Stamm legte. Nach einem Moment schüttelte der Schamane ärgerlich den Kopf und winkte Walser, weiterzugehn.
Der trommelnden Baum hatte zu dem Schamanen gesagt: »Ha! Reingefallen!«
Bald begann ein anderer Baum zu trommeln, doch auch dieser erlaubte sich, wie sich herausstellte, nur einen Scherz mit dem Schamanen. Der begann vor sich hinzumurmeln. Der dritte aber bekannte traurig: »Ich bin es.« Der Schamane fällte ihn sofort und ließ Walser den Stamm nach Hause tragen. Er schnitt den Reifen für die Trommel aus dem Holz dieses Baumes, wie er in seinem starkriechenden Haus vor dem Ofen saß.
Der Schamane wohnte in einem hübschen, behaglichen, viereckigen, einstöckigen Haus aus Kiefernbalken. Über dem Samowar hing ein Lederbeutel, geschmückt mit Adlerfedern, Schwänzen von Eichhörnchen und Kaninchen, Blechscheiben und kleinen Lederzöpfen. Dieser Beutel enthielt das Amulett, das er niemand sehen ließ, nicht einmal Walser, den er liebgewonnen hatte. In diesem Amulett steckte die ganze Quelle seiner ungewöhnlichen Kräfte. Sein Vater, von dem er es geerbt hatte, hatte ihm eingeschärft, daß er nie, niemals den Inhalt enthüllen dürfe. Er hütete das Geheimnis des Amulettbeutels so gut, daß er geradesogut auch leer hätte sein können.
Der Schamane und Walser lebten nicht allein. Ein Bär wohnte auch da, ein schwarzer, noch nicht ganz ein Jahr alt, fast noch ein Junges. Dieser Bär war halb Haustier, halb Schutzgeist; er war sowohl ein realer, pelziger und geliebter Bär und zur gleichen Zeit auch ein transzendentaler Meta-Bär, eine geringere Gottheit und auch zum Teil ein Vorfahr, denn die Waldbewohner schätzten die Zeugungsmöglichkeiten der anderen Spezies des Waldes sehr großzügig ein, und es gab viele Bären auf der Vaterseite in der Ahnentafel des Stammes.
Der Schamane glaubte, daß der Bär als Säugling in einer silbernen Wiege aus dem Himmel heruntergelassen worden war. Er hatte die Wiege an einer silbernen Schnur in ein
Weitere Kostenlose Bücher