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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Macht, die ganze Autorität erben sollte, all seine speziellen Kenntnisse, selbst seine Rentiere und seinen Samowar. Tag um Tag gewann er Walser lieber. Abends umarmte und streichelte er Walser zärtlich, ehe sie einschliefen. Er mochte Walser sogar noch mehr als den Bären. Nun, da Walser hier war, würde er den Bären nicht vermissen, wenn die Zeit kommen würde, ihn zu opfern.
    Der Stamm zählte die verstreichende Zeit in Blöcken von Licht und Dunkelheit, von Schnee und Sommer. Da ihr Kalender jahreszeitlich bestimmt war und der Kontakt mit den fremden Teufeln, die einem Feuer in die Harnblase taten, sie nicht veranlaßt hatte, eine Kalenderreform vorzunehmen, begingen sie das Wintersolstitium mit großen Feierlichkeiten. Eine große Lärche, zu dieser Zeit des Jahres kahl, stand vor der Götterhütte, und als der Lichtkeil mittags von Tag zu Tag geringer wurde, öffneten der Schamane und seine Assistentin, die Cousine, in der Götterhütte verschiedene Kisten und holten enorme Mengen roter Bänder hervor und Blechanhänger in verschiedenen Formen: Sterne, Halbmonde, Monde, Männer und Frauen in der groben Stilisierung von Lebkuchenfiguren. Der Schamane ermunterte Walser, den anderen beiden zu helfen, als sie den Baum erkletterten und diesen Schmuck an die Zweige hängten. Walser dachte, der Baum würde noch hübscher aussehen, wenn man brennende Kerzen auf die Zweige steckte, aber Kerzen gab’s keine. Walser dachte, daß Weihnachten bevorstehen müßte, aber er konnte sich nicht erinnern, was Weihnachten war, und natürlich hatte Weihnachten gar nichts damit zu tun. Das Dorf würde sich auch des Augenblickes nicht bewußt werden - der nun sehr rasch heranrückte -, wenn das neunzehnte Jahrhundert sich in das zwanzigste verwandeln würde.
    Man konnte nicht einmal sagen, daß sie aus der Geschichte verbannt waren: Sie bewohnten eher eine Dimension der Zeit, welche die Geschichte unberücksichtigt ließ. Sie waren ahistorisch. Die Zeit bedeutete bei ihnen nichts.
    Zu diesem Zeitpunkt, dem Angelpunkt der Moderne, der Drehung der Türangel vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert, hätte bei einer großen Befragung aller Bewohner der Welt wohl die weitaus größte Anzahl - über den ganzen Planeten hinweg mit ihrem täglichen Geschäft (Landwirtschaft, Brandrodung, Krieg, Metaphysik und Fortpflanzung) zugange - diesen sibirischen Eingeborenen nachdrücklich darin beigepflichtet, daß die ganze Vorstellung von einem zwanzigsten Jahrhundert oder überhaupt einem Jahrhundert schon eine sehr merkwürdige Idee war. Wenn man dieses globale Plebiszit auf demokratische Weise durchgeführt hätte, dann hätte das zwanzigste Jahrhundert sofort zu existieren aufgehört, das ganze System, die Jahre nach Hunderten zu gruppieren, wäre aufgegeben worden, und die Zeit hätte aufgrund einer soliden Mehrheitsentscheidung stillgestanden.
    Doch selbst damals, selbst in diesen entlegenen Regionen, in jenen Tagen, jenen letzten verwirrenden Tagen vor der Geschichte (das heißt, der Geschichte, wie wir sie kennen, also weiße Geschichte, also europäische Geschichte - also Yankee-Geschichte) - in jenem letzten kleinen Freiraum, wo man Atem schöpfen konnte, ehe die Geschichte als solche ihre Tentakeln ausstreckte, um den gesamten Globus zu umfassen, schon da hingen die Leute des Stammes an ihrem Tee und hantierten geschickt mit den importierten Feuerwaffen und mit Äxten, die sie nicht selbst herstellen konnten, da sie im wesentlichen noch der Steinzeit angehörten. Sie wußten mehr, als sie aussprachen. Die Zukunft war ihnen gegenwärtiger, als sie es eingestanden hätten, jeden Tag tranken sie sie und hatten sie in der Hand.
    So waren sie nicht ganz in derselben Lage wie jene amerikanischen Indianer, die im Jahre vierzehnhundertzweiundneunzig morgens in dem glücklichen Glauben erwachten, sie seien die einzigen Bewohner des Planeten, selbstgefällig in der trügerischen Sicherheit, daß sich nie etwas in ihrer Welt geändert hatte und sich deshalb auch nie etwas in ihrer Welt ändern würde, und so in ihrer Unschuld dem Untergang geweiht waren. Diese sibirischen Waldbewohner wußten, daß sie nicht allein waren, und ihre Leben hatten sich schon verändert, wenn es auch zu dieser Zeit noch schien, als könne ihre flexible und elastische Mythologie die Zukunft in sich aufnehmen und einbeziehen und so verhindern, daß ihre Gläubigen in der Vergangenheit verschwanden.
    Die Cousine des Schamanen hatte Walsers Schamanenkostüm fertig

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