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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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verlieren, die Ihnen für die Auftritte in Petersburg zusteht.«
    «Ho, ho, ho!« dröhnte er, wieder bester Laune. Er zog eine lange Reihe Flaggen aus Sybils Ohr, wobei er dem Blick des Schweins auswich, der ihn für seine harten Geschäftsmethoden tadelte.
    »Muß man schon früh aufstehen, wenn man Colonel Kearney übers Ohr hauen will!« rief er und schwenkte seine Flaggenschnur.
    »Sie hören von meinen Anwälten!« sagte Fevvers; ein rührend hilfloser Versuch, ihm zu trotzen.
    »Schicken Sie mir die einstweilige Verfügung per Elch.«
    Nach diesem freundschaftlichen Austausch brach der Colonel zur Eisenbahn auf, und sein Führer sprang freudig erregt vor ihm her. Lizzie ging bis zum Gartentor mit, um sie so übellaunig zu verabschieden, wie es ihr nur möglich war. Ihre Augen sprachen Bände, doch sie war stumm vor Wut, weil sie sich nicht länger mit etwas Konkretem rächen konnte - Hämorrhoiden, Plattfüße. Fevvers mochte auf dem Weg von London hierher ihre stolze Größe verloren haben, doch Lizzie war es viel schlimmer ergangen - sie hatte ihre Gabe, kleine Katastrophen anzurichten, Katastrophen im Haushaltsformat, verloren. Die war (wo sonst?) in ihrer Handtasche gewesen.
    Sie tröstete sich: Haarausfall brauchte sie dem Colonel nicht mehr zu wünschen, er war schon kahl.
    Sie fühlte Sybil gegenüber jedoch keinen Groll, und es rührte sie, zu sehen, wie das kleine Schwein sein Gesicht mit seinen Ohren bedeckte, verlegen wegen ihres Beschützers, schniefend vor Mißbilligung, versucht, aus seinen Armen zu springen und sich denen anzuschließen, die der Colonel zurückließ. Doch Sybil wußte, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert war, und mochte sie auch verärgert sein - sie blieb bei dem Colonel, der immer wußte, wo die beste Butter zu haben war. Der Colonel stellte seine prächtige Laune durch den schwungvollen Vortrag von »Yankee-doodle-dandy« unter Beweis; der Flüchtling fiel beim Refrain mit seinem schweren Akzent erst zögernd, dann mit immer größerer Überzeugung ein.
    »Da haben wir einen Rekruten an die freie Marktwirtschaft verloren«, knurrte Lizzie traurig. Dann schrie sie zu Fevvers ins Haus zurück: »Da siehst du, was du uns wieder eingebrockt hast!«

X
    Die beiden Frauen in ihren dicken Pelzen überließen sich der Landschaft. Bald verloren sie das Haus des Maestro aus den Augen, und dann waren sie ganz allein.
    »Erinnerst du dich nicht mehr, was wir beim Aufbruch von England für ein bunter Haufen waren?« sagte Lizzie - in förmlichem Tonfall, als spräche sie zu einer öffentlichen Versammlung, so daß Fevvers zusammenzuckte und auf einen bis jetzt aufgesparten Tadel wartete.
    »Ein bunter Haufen, in der Tat - eine Horde von einander Unbekannten aus vielen Ländern. Man könnte sogar sagen, daß wir einen Mikrokosmos der Menschheit darstellten, eine emblematische Versammlung, wo jeder einen anderen Lehrsatz im großen Syllogismus des Lebens darstellt. Die Gefahren der Reise ließen uns zu einer kleinen Schar von Pilgern schrumpfen, in der Wildnis verloren, auf welche diese Wildnis wie ein moralisches Vergrößerungsglas wirkte, bei einigen die Defekte übertreibend, bei anderen Tagenden hervorhebend, die wir nicht vermutet hatten. Diejenigen von uns, die die Lektionen aus ihren Erfahrungen gelernt haben, haben schon ihre Reise geendet. Einige, die es nie lernen können, stolpern, so rasch sie können, wieder in die Zivilisation zurück, so selig unbelehrt wie vorher. Doch du, Sophie, scheinst dir das alte Motto gewählt zu haben: Besser hoffend auf der Reise, als je anzukommen.«
    »Wie«, fragte Fevvers mit sorgfältiger Vorsicht, »bist du zu diesem Schluß gekommen?«
    »Es hat keinen Sinn, Sophie. Nach dem zu urteilen, was wir einen Augenblick lang gesehen haben - wie da dein lieber Junge auf dem Rentier saß und seinen Rock anhatte, da scheint es doch, daß er nicht mehr der Mann ist, der er einmal war. Nichts mehr da, Sophie! Nichts übrig... Aber ich bin die größere Törin, denn du gehst ihm doch aus eigenem freiem Willen nach, aber ich latsche nur wegen meiner alten Zuneigung dir hinterher mitten durchs Nirgendwo.«
    »Ich bin«, fügte sie säuerlich hinzu, »die Sklavin deiner Freiheit.«
    Fevvers hatte sich das alles in zunehmend zornigem Schweigen angehört, und nun brach es aus ihr heraus.
    »Ich hab dich nie gebeten, mich zu adoptieren, du arge alte Hexe! Da war ich, einzigartig und elternlos, ohne Fesseln, ohne Bande, frei von der Vergangenheit, und im

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