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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Kind, ging einem richtigen Schwein gerade bis ans Knie, da machte ich die Bekanntschaft der wunderbarsten, Anwesende immer ausgenommen, kleinen Dame, die je Schweinemast gefuttert hat...«
    Der Flüchtling war sprachlos vor der Eloquenz des Colonels. Noch nie war er jemandem begegnet wie dem Colonel. Wenn dieser auch durchaus nicht aussah wie eine Sirene, war doch sein Gesang ebenso bestrickend. Als der Fisch gekocht und gegessen war, hatte der Flüchtling eingewilligt, den Colonel bis zur Bahnstation in R. zu geleiten, und von da -
    »Notfalls besteige ich mein Schwein!«
    - auf irgendeine Weise zu irgendeinem Ort, von wo aus die Presse auf das ungeheuerliche Schicksal von Colonel Kearneys Zirkus hingewiesen werden konnte und von wo aus man Kredit aufnehmen konnte, daß der ganze Laden bald wieder stand.
    Die Elastizität dieses kleinen dicken Colonels! Er war wie eines dieser Stehaufmännchen mit runder Standfläche, die man, so fest man stößt, nicht zum Umfallen bringt. Mit welch missionarischem Eifer trat er der verwirrten Tugend des Flüchtlings gegenüber! Dieser, der an die ursprüngliche Unschuld und den wesentlichen guten Willen des Menschen glaubte, besaß keine Abwehrkräfte gegen den Colonel, denn natürlich glaubte der genau dasselbe, aber von einer gänzlich anderen Perspektive aus.
    »Und diese kleine Dame also, ihre Urgroßmama, die erste der langen Linie patriotischer Schweine, stellte sich auf ihre Hinterbeine und hat mich etwas gelehrt, was ich in der Schule nie erfahren hatte. Und diese Lektion, mein Junge, die war: Gib den Toren, die betrogen werden wollen, was sie sich wünschen!«
    »Ho, ho, ho!« gluckste er; er hatte den Flüchtling rasch als einen sympathischen Toren erkannt. Seine kleinen Augen glitten ruhelos durch die asketische Hütte, welche sich durch die Geometrie der Musik schnell in einen hohen weißen Palast des transzendentalen Gedankens verwandelte. Das gefiel ihm gar nicht. Er wußte, daß Mozart ohne einen Pfennig auf einem Strohlager gestorben war.
    »Über den Löffel balbieren!« vertraute er dem Flüchtling eine weitere Devise an, dessen Leben bis jetzt der Aufgabe gewidmet gewesen war, die Menschheit zu vervollkommnen, sie mochte wollen oder nicht. Der Flüchtling überlegte sich diesen Satz eine Weile und dachte sich dann, daß es wohl mit seiner unvollkommenen Beherrschung des Englischen zusammenhängen müßte, was für ein Verdacht in ihm aufstieg, denn das konnte der Colonel doch nicht gemeint haben! Aber der Colonel lachte in sich hinein, als er sich den frischen, klaräugigen Flüchtling betrachtete, und beschloß: Wenn sich der Junge als nützlicher Rekrut für das große Projekt des Großen Spiels herausstellen sollte, dann würde er ihm zum Gebrauch in Amerika den Namen Balbino geben. Er fragte Sybil, wie er den Flüchtling am besten benutzen könnte, wenn man in die Zivilisation zurückgekehrt sein würde. Sie legte den Kopf auf die Seite und dachte nach. Dann sprach das Orakel:
    G-E-S-C-H-Ä-F-T-S-F-Ü-H-R-E-R.
    Denn ein reines Herz versorgt die Kasse am treuesten. Der Flüchtling sann über die Aussicht auf ein neues Leben in der Neuen Welt nach. Sie erregte ihn angenehm! Er wollte am liebsten gleich aufbrechen und losmarschieren, doch da stellte sich heraus, daß Mignon und die Prinzessin nicht fortzubringen waren. Keinen Zoll! Als der Colonel versuchte, sie zu überreden, mit ihm zum Lichterglanz der Großstadt zurückzukehren, schüttelten sie den Kopf. Der Maestro (bei dem alle Symptome darauf schließen ließen, daß er bald vor reinem Glück darüber, unwillkürlich doch noch die Musikakademie von Transbaikalien gegründet zu haben, für die schon keine Hoffnung mehr bestand, den Geist aushauchen würde) zog seine einzigartigen Schülerinnen fest an seine Brust. Durch die maßlose Wildnis um sie her streifte das wilde Publikum, für das die Frauen eine noch nie zuvor auf Erden gehörte Musik machen mußten, nicht jedoch die Musik der Sphären, sondern von Blut, Fleisch, Sehnen, Musik vom Herzen.
    Diese Musik, verkündete Mignon, waren sie zu machen geboren. Allein deshalb waren sie zusammen hierhergebracht worden, als Frauen und Liebende, nur um solche Musik zu machen - Musik, die zähmte und ungezähmt ließ, Musik, die den Pakt der gelassenen Ruhe zwischen der Menschheit und ihren wilden Brüdern, ihren wilden Schwestern, besiegelte, und sie doch ließ in ihrer Freiheit.
    Mignon hielt ihre Rede mit solch lebhafter Kraft, daß sie alle bewegt

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