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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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zusah. Der Colonel ließ das kleine Schwein auf alle viere zu Boden fallen, direkt vor die Karten mit den Blockbuchstaben.
    »Nun sag mir als nächstes, Sybil, auf welche Art und Weise kann uns der kühne Caballero hier nützlich sein?«
    Sybil studierte die Karten einen Augenblick lang, warf Walser wieder einen Blick zu, schien eine kurze Zeit gedankenverloren und stupste dann, mit ihrer suchenden Schnauze, die Lösung zurecht: C-L-O-W-N.
    Und setzte sich zufrieden auf die Hinterbeine. Der Colonel belohnte sie, indem er reichlich Beifall klatschte und ihr einen Apfel zuwarf, stülpte nun den Papierkorb um und enthüllte in seinen raschelnden Tiefen ein ganzes Lager »Old Grandad«. Er zog einer frischen Flasche den Korken - »Eis und Minze vergessen wir jetzt mal« - und goß ihren Gläsern zu. Das Schwein sprang ihm auf den Schoß, wo es mit Streicheln und Schmätzchen willkommengeheißen wurde, aber die ruhelosen Augen des Colonels, klar wie die Sybils und ohne die roten Ränder des Trinkers, wanderten auf Walser hin und her: Was spielt der für ein Spiel, was will er, was treibt er? Ist er so blöd, wie er aussieht, oder noch blöder?
    »So, junger Mann«, sagte er, »da wären Sie nun ein Erster Mai. Fragen Sie mich nicht, wie dieser Übername aufgekommen ist - so nennt man bei uns die Neophyten, die Jungfrauen der Manege, die grünen Anfänger der Kunst des Spielens. Nur ein paar Fragen. Zunächst: scheut sich das liebe Kleine vor Wanzen?«
    Als Walser lachend den Kopf schüttelte: »- das ist hervorragend, denn es gibt für Wanzen nichts Besseres als einen Zirkuszug. Ein Zirkus ist für cimex lectularius ein einziges großes Festessen, der Zirkuszug ein einziger Speisewagen.«
    Er brachte es nun fertig, Walser mit seinem zuckenden Blick eine ganze Sekunde lang direkt zu fixieren, gleichzeitig aber kaute er weiter auf der Zigarre, daß der Rauch um ihn aufsprang, und seine knochigen Finger mit den abgenagten Nägeln zogen immer wieder an Sybils Ohren. Auch das Schwein legte den Kopf schief und starrte den jungen Mann aufmerksam an, als wäre auch sie erwartungsvoll gespannt, Walsers Antwort auf die zweite Frage des Colonels zu hören, die er nun stellte:
    »Und wie hält es Demütigungen aus?«
    Verblüfft hustete Walser an seinem Schluck Bourbon.
    »Wie ich sehe, haben Sie nicht die geringste Ahnung von der Arbeit eines Clowns«, sagte der Colonel mit melancholischer Stimme. »Nun gut. Mir ist’s recht. Manche sind als Narren geboren, manche werden zum Narren gehalten, manche machen selbst einen Narren aus sich. Nur zu. Machen Sie einen Narren aus sich. Ich nehme Sie als Lehrling für Dummen August - Vertrag: sechs Monate, wir nehmen Sie mit quer durch Sibirien. Sibirien! Ah, diese Herausforderung, dieses Abenteuer! Die Stars and Stripes über der Tundra!«
    Er warf behende Sybils Ohr nach oben, fuhr mit den Fingern hinein, zog eine lange Reihe kleiner Seidentaschentücher, bedruckt mit der amerikanischen Flagge, hervor und schwenkte sie über seinem Kopf.
    »Ich kann doch wohl bei einem amerikanischen Landsmann davon ausgehen, daß er die ruhmvolle Größe des Unternehmens erfaßt! Alle Nationen vereint im großen Spiel, unter dem Banner der Freiheit! Sehn Sie den tiefen Sinn, junger Mann? Die Stars and Stripes über der Tundra, gekrönte Häupter neigen sich vor dem demokratischen Spektakulum! Und dann, denken Sie doch nur, Elefanten voran zum Land der Aufgehenden Sonne, junger Mann! Hannibals Elefanten senkten ihre Stoßzähne nach den Alpen, aber meine sollen um die ganze Welt ziehen! Noch niemals zuvor in der gesamten Geschichte der Unterhaltung hat ein freier a-me-ri-kani-scher Zirkus den Globus umrundet!«
    Welche visionäre Kraft!
    »Und nach diesem beispiellosen und epochalen historischen Ereignis werde ich Sie sanft und sicher zu Hause in den guten alten Staaten absetzen. Yessir!«
    Und damit hieb er mit der Faust (die immer noch die ineinander verknüpften Seidentücher hielt) auf den Schreibtisch, daß Flasche und Gläser klirrten, und rief, ganz ohne Ironie und Spott und offensichtlich aus der Fülle eines froh erregten Herzens:
    »Willkommen beim Großen Spiel!«

    Als Walser sich zum ersten Mal schminkte, schaute er in den Spiegel und erkannte sich nicht. Und wie er den Fremden betrachtete, der fragend aus dem Spiegelglas zurücksah, spürte er den Beginn eines schwindelerregenden Gefühls von Freiheit, das ihn während der ganzen Zeit beim Zirkus des Colonels nie völlig verlassen sollte - bis

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