Nächte im Zirkus
zu jenem letzten Moment, als sie sich trennten, erfuhr er die Freiheit, die hinter der Maske liegt, in der Verstellung: die Freiheit, mit dem eigenen Wesen zu jonglieren und mit der für unser Wesen entscheidenden Sprache, jene Freiheit, die das Herz der grotesken Komik ist.
Nach Beendigung ihrer ewig wiederholten Gebete legte sich die Babuschka auf den Ofen und begann bald zu schnarchen. Walser tippte »ENDE« unter seinen Bericht, da er fürchtete, das Klappern der Maschine könnte ihren greisen Schlaf stören. Er wollte keine Aufmerksamkeit auf seine journalistische Tätigkeit lenken, aber er war zu seinem August-Kostüm verdammt, solange der Zirkus in der Stadt war, denn die Clowns liefen als wandelnde Plakate für Colonel Kearneys Zirkus umher. So ging er zur Küchentür und pfiff nach dem kleinen Iwan. Selbst wenn das Kind die Gegenwart der Clowns als unaussprechlich beunruhigend und unheimlich empfand, konnte man es mit ein paar Kopeken bestechen, daß es von seinem Spiel weglief und Walsers versiegelten Umschlag zur britischen Botschaft brachte, wo er dann diskret im Kuriergepäck nach London zurückkehren würde. (Walser sah, wie sehr das Kind es verabscheute, seine Hand zu berühren.)
Wenn er nicht in der schreienden, spottenden Gesellschaft des halben Müßiggangs und Straßenbettels der großen Stadt zur Arbeit gehen wollte, mußte er sich durch Nebenstraßen drücken, durch stinkende wäscheverhängte Gäßchen, an den düsteren Toren kahler Mietskasernen vorbei. Von dieser schönsten aller Städte hat Walser am Ende tatsächlich nur die abstoßend häßliche Rückseite gesehen - eine gelbe Lampe im Fenster eines Drogisten, zwei nasenlose Frauen unter einer Straßenlaterne, ein in einen Torweg gerollter Betrunkener in einer Lache Erbrochenem... Eis im Fell des toten Hundes, der einen dreckigen Kanal hinuntertreibt. Nebel und der aufziehende Winter.
Fevvers, die sich im Hotel de l’Europe unter einem venezianischen Lüster zusammenkuschelt, hat von der Stadt, in der Walser wohnt, nichts gesehen. Sie hat Schwäne aus Eis gesehen, zwischen den Flügeln reich mit Kaviar besetzt; Kristall und Diamanten; sie hat all die hellstrahlenden, durchsichtigen, luxuriösen Dinge gesehen, bei deren Anblick ihre blauen Augen vor Begierde zu schielen beginnen.
Ihre Wege laufen nur im Ziegelgewölbe des kaiserlichen Zirkus selbst zusammen.
II
Der Colonel schmeichelte, insistierte, flehte, forderte, daß Old Glory, die amerikanische Flagge, während seines Besuchs die eigene Fahne des Zaren am Flaggenmast ganz oben auf dem Kaiserlichen Zirkus ablösen sollte - und da hing sie nun, schlaff, als sei sie der Lethargie der fremden Lüfte erlegen. Der Zirkus selbst, erbaut, um in Permanenz Spektakel des über die Schwerkraft und den Verstand triumphierenden menschlichen Willens zu beherbergen, war ein hohes Sechseck aus rotem Backstein. Eine pompöse Freitreppe führte zu einem Eingang hinauf, den zehn Fuß hohe mit Taubendreck bekleckste Karyatiden in Gestalt geschmückter Elefanten, auf den Hinterbeinen hockend und die Vorderbeine in die Höhe gereckt, flankierten. Solcherart waren die Wächter dieses Ortes, die Elefanten, Schutzgeister und Säulen des Zirkus, welche die ganze Show auf ihren königlich gewölbten Stirnen tragen, so, wie sie den Kosmos der Hindus stützen.
War der Besucher einmal am Kassenfenster vorbei, so ließ man seinen Pelz in einer Garderobe, die während der Vorstellung ein Schatzhaus von Zobel, Fuchs und den Fellen kostbarer kleiner Ratten wurde, als streifte man dort die Haut der eigenen Viehheit ab, um die Tiere der Manege nicht in Verlegenheit zu bringen. Nach dieser Erleichterung erreichte man ein weites Foyer mit einer spiegelbesetzten Champagnerbar und stieg eine weitere Freitreppe empor, diesmal im Halleninneren und aus Marmor, um zur Arena zu gelangen.
Den innersten Kreis um die Manege bildeten Logen aus rotem, goldgesäumtem Plüsch, die plüschigste mit dem goldenen kaiserlichen Adler bezeichnet. Über dem Artisteneingang schwebte eine vergoldete Plattform für das Zirkusorchester. Alles war elegant, sogar üppig, ausgestattet mit einem schweren, ein wenig übersättigten Luxus, der stets schwarze Fingernägel zu haben schien, dem Luxus der Provinz, des Landes. Aber das Aroma von Pferdeäpfeln und Löwenpisse durchdrang jeden letzten Winkel des großen Gebäudes, so daß der kitzelnd-erregende Kontrast zwischen den weichen weißen Schultern der schönen Frauen, die von jungen
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