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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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nahm die Zigarre zwischen seinen verfärbten, lückenhaften Zähnen hervor und starrte mit zusammengekniffenen Augen vertraulich auf die glühende Spitze. »Vor Jahren, ach, vor Jahren drunten auf der Farm von Daddy in Lexington, Kentucky, ich war ja noch ein Kind, ging einem richtigen Schwein gerade bis ans Knie, nicht wahr, Sybil, da machte ich die Bekanntschaft der wunderbarsten kleinen Dame, die je Schweinemast gefuttert hat, Anwesende immer ausgenommen, jawohl Sir! Das war von Miss Sybil hier die ureigene Urgroßmama, Sir. Die erste in der großen Dynastie meiner borstenbewehrten Assistentinnen.
    Ich war als junger Mann arbeitsscheu, aber hartnäckig, und ich hatte mein ganzes elftes Lebensjahr damit verbracht, die Technik der Hosenflöte zu meistern, Sie verstehen, was ich meine? Bin in der Schule auf die Bank gesprungen, wenn der Lehrer uns den Rücken gekehrt hat, und hab den Refrain von ›My Old Kentucky Home‹ mit dem Hintern geblasen, während er die hauptsächlichen Flüsse und Gewässer Europas an die Tafel geschrieben hat, so war ich eben, junges Blut, konnte mich auf alles konzentrieren, wenn es nur keinen Nutzen hatte, und sobald ich Sybils Urgroßmama sehe, denk ich mir: das ist mal eine Herausforderung!
    Hab die Schule geschwänzt, hat mich drei Monate pausenloser Anstrengung gekostet, bis das alte Mädchen auf den Hinterfüßen stand und die Fahne schwenkte. Hab mir zuerst ja gar nichts gedacht dabei, nur damit die Zeit vergeht, aber nachdem ich drunten in der Bar meinen ersten Nickel für den Anblick des patriotischen Schweins kassiert hatte, jawohl Sir! da waren wir auf unserem Weg. Früh krümmt sich undsoweiter, Sie wissen Bescheid, junger Mann? Mein universales Fest, meine Oper fürs Auge, meine an alle Orte versetzbare Feier des Lebens und Lachens - all das begann an einem stickigen südlichen Morgen vor all diesen Jahren, als die Urgroßmama von Miss Sybil hier sich tatsächlich auf ihre Hinterfüße gestellt hat und mich so etwas gelehrt hat, was ich in der Schule nie erfahren hatte - wissen Sie, was das war, junger Mann?«
    Breit durch den Vorhang aus Zigarrenrauch hindurchgrinsend hielt er inne, nicht weil er auf eine Antwort wartete, sondern wegen des Effekts - und dann rief er laut, zufrieden, fröhlich das Motto des Großen Spiels: »Den Narren brennt das Geld in der Tasche!«
    »Ho! Ho! Ho!« dröhnte er, wie der Weihnachtsmann. »Wie wär’s mit noch einem Julep?« Einen Vorrat an Gläsern bewahrte er in der rechten Schreibtischschublade auf.
    »Und Sie kommen also aus dem sonnigen Kalifornien, via Kap Horn, junger Mann? Und wie jeder echte amerikanische Junge möchte er davonlaufen und mit dem Zirkus weiterziehen...«
    Seine blaßblauen kleinen Augen, die wie rotumrandete Kiesel glänzten, irrten nach da und dort: Er hörte nie auf, einen anzusehen, nie aber geschah es direkt. Beruhigend war seine Gesellschaft nicht, unter der Oberfläche seiner Jovialität lag etwas Ruheloses, Unstetes, Turbulentes, er ließ sich von niemand für dumm verkaufen und nahm keine Rücksicht auf Dummköpfe. Walser hatte keine besonderen Fähigkeiten zu bieten, konnte nicht auf dem Hochseil gehen und wäre auf dem Zebra geritten wie ein Matrose zu Pferde, und doch sagte seine reichliche Intuition dem Colonel, daß sich dieser gutaussehende junge Mann billig anstellen ließe, daß er stark war, flexibel, vielleicht auf der Flucht, sicher ein günstiger Kauf, aber, möglicherweise, nicht trotz, sondern wegen alledem ein Risiko. Der Colonel zog seine Partnerin zu Rate.
    »Was meinst du, Sybil? Heuern? Feuern?«
    Sie legte einen Augenblick lang den Kopf zur Seite und betrachtete Walsers Gesicht genau. Dann stieß sie einen seltsamen, knurrigen kurzen Quietschlaut aus - und nickte, mit flappenden Ohren.
    »Nun, ein hübscher junger Mann wie Sie kann ja wohl einer schönen Dame beim ersten Blick den Kopf verdrehen«, bemerkte der Colonel verführerisch und schaute Walser wieder von der Seite an. Er zog sich den speichelgeränderten Zigarrenstummel aus dem Mund und klopfte sechs Zoll Asche auf den Teppich. Dann holte er den berühmten Satz eselsohriger, fettfleckiger Alphabetkarten aus der Westentasche, ließ sie prüfend zwischen den Fingern rauschen, ob alle da waren, fegte mit einem Schwung seines Armes die ganze Unordnung vom Tisch. Die leere Bourbonflasche plumpste harmlos auf einen rotbebänderten Stapel Vorladungen. Schweratmend legte der Colonel die Karten aus, während Walser erstaunt und amüsiert

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