Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Titel: Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Hacke
Vom Netzwerk:
zahllosen Literaten … Wer weiß, vielleicht bringe ich es doch noch als Schriftsteller« – das war eine der letzten Tagebucheintragungen Gehrets. Am 29. März 1986 sollte er in einer von seinem Freund Krowinn organisierten »Literaturnacht« zum ersten Mal vor größerem Publikum lesen. Diese Aussicht beherrschte ihn. »Seltsam, wie mir der Gedanke an die Lesenacht die Glut ins Gesicht treibt! Ich werde lesen!Und ich will alle in den Schatten stellen. Jawoll!« Dann wieder: »Mit dem, was ich bisher in der Mappe habe, traue ich mir nicht zu, die anderen Autoren der Literaturnacht in den Schatten zu stellen.« Schließlich: »Klar, ich kann nicht ewig mit dem schmalen Repertoire von Sex, Blut, Scheiße und farbigen Schmetterlingen protzen. Das nutzt sich ab. Aber in meinen 14 Ordnern stecken genug inventiones, um nicht nur während der Literaturnacht am 29. März den Vogel abzuschießen.«
    Das schrieb er im Krankenhaus. Schon Anfang März war er zur Notaufnahme eines Berliner Hospitals gebracht worden, nachdem er seiner Schwester telefonisch mitgeteilt hatte, er habe eine schwere Grippe, könne weder gehen noch stehen, sprechen, heizen. Das Krankenhaus nahm ihn nicht auf. Gehret lag zwei Tage und Nächte apathisch in der Wohnung, landete schließlich doch mit doppelseitiger Lungenentzündung und völlig entgleistem Stoffwechsel in einem anderen Krankenhaus. Seinem Drängen folgend, entließ man ihn am Tag der Lesung, die er mit Beifall hinter sich brachte.
    Drei Wochen später, wieder krank, verließ er seinen Arbeitsplatz und wurde von niemandem mehr lebend gesehen. Seinem eigenen Diabetes-Tagebuch war zu entnehmen, dass er seine Blutzuckerwerte nicht mehr in den Griff bekommen hatte. Wahrscheinlich sank er langsam in ein Koma, desorientiert durch abnehmenden Blutzucker, geschwächtdurch fehlende Nahrungsaufnahme. Gehret starb mit 36 Jahren in der Anonymität der Stadt, in die er geflüchtet war, an dem Diabetes, den er sich selbst beigebracht hatte. Man fand ihn vor dem Schrank mit den Insulinspritzen, auf dem Rücken liegend, die Arme ausgebreitet, der Gesichtsausdruck ruhig und entspannt.

WOLFGANG – SO ISSA
    E S WAR ELF U HR MORGENS , und wir waren allein in Wolfgangs kleiner Kneipe: Paul und ich und die Dame hinter der Theke. Paul bestellte ein kleines Bier. Ich sagte: »Für mich auch eins.« Im Fenster hing ein gelbes Schild, auf das jemand in roter Farbe gepinselt hatte: »Hier fährt Wolfgangs Futschi-Express. Doppelstöckig 3,– DM. Ab geht die wilde Fahrt.« Hier drinnen war es aber ganz ruhig. Ich hörte den großen weißen Kühlschrank summen und sah an dessen Tür einen schwarz-rot-goldenen Aufkleber, auf dem in großen Buchstaben die Worte »Fressen, Ficken, Fernsehen« standen. Dahinter hing an der Wand ein Zettel. Ich las: »Ganz Deutschland ist ein Irrenhaus, aber hier ist die Zentrale.« Paul sagte, gleich um die Ecke habe Botho Strauß eine Wohnung, nur einen Block weiter finde man den Langenscheidt Verlag, und wenn man die Gleise der Berliner S-Bahn hinter dem Haus überquere, sei man schon in Kreuzberg. Hier war Schöneberg, aber das ändert nicht viel. Es sind die gleichen Häuser, entweder kurz vor dem Verfall oder gerade frisch saniert, dazwischen nichts. Ich wollte noch fragen, ob Botho Strauß nicht mittlerweile genugGeld für eine Wohnung in besserer Gegend … aber die Biere waren fertig. Paul bestellte noch einen Fernet dazu. Die Dame hinter der Theke war nicht mürrisch, aber es schien ihr egal zu sein, ob wir nun da waren oder nicht. Sie trug ein enges schwarzes Kleid mit einem breiten schwarzen Gürtel, und ihre Ohrclips waren groß und rot. Dem Gesicht dazwischen sah man die Jahr für Jahr wiederholten Versuche an, in drei Wochen Gran Canaria die Spuren von 49 Wochen Schöneberg zu tilgen. Der Fernet war in einer großen, hohen, schmalen Flasche, und Paul sagte, er kenne sich da aus: Warum denn der Fernet nicht in einer Fernet-Flasche sei? Aus dem kleinen Gesicht schoss ein erstaunter Blick über den Tresen, und der Schöneberger Mund sagte: »Wir füllen alle Schnäpse in solche Flaschen, det is wejen det Ablitern.«
    »Ablitern?«, fragte Paul.
    »Wissen Se nich, wat Ablitern is?« Wirklich nicht? Wisse doch jeder. Sie erklärte es trotzdem. Auf der Rückseite der Flasche befand sich eine Skala, auf der man ablesen konnte, wie viele Schnapsportionen noch drin waren. Wenn die Dame um zwei nach Hause geht, wird ihre Nachfolgerin dies Flasche für Flasche überprüfen und

Weitere Kostenlose Bücher