Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten
seine Wohnung schleppt, bewegt er sich fort; die Berliner Verkehrsgesellschaft boykottiert er aus finanziellen Gründen.
Dabei ist Gehret ein liebenswürdiger Mensch von philosophischer Freundlichkeit, der durch intensive Zuwendung und Zuhören die abstoßende Wirkung seines Äußeren meist nach wenigen Sätzen ins Gegenteil verkehrt. Seine Unabhängigkeit aber lässt er nicht antasten. Als seine sonst über alles geliebte Schwester, Zahnärztin in Dillingen, ihm den Kauf einer Eigentumswohnung in Berlin anbietet, droht er mit dem Abbruch der Kontakte. Jeden Pfennig (zum Schluss werden es mehrere Zehntausend Mark sein) legt er für die Realisierung seines Traums zurück: »Das Bild von einem eigenen (oder gemieteten) Haus im Süden: hell, luftig, mit weiß gekalkten Wänden und in der schönsten Ecke der Schreibtisch mit allen Utensilien. H. Hesses Montagnola kenne ich nicht; davon habe ich nicht einmal ein Foto gesehen. Aber ich stelle es mir ideal vor für meine Bedürfnisse.« So steht es im Tagebuch.
Das Leben zu diesem Ziel ist drakonischer Systematikunterworfen. Als Diabetiker hat Gehret strenge Diät zu leben, gegen die der Körper immer wieder rebelliert. Jeder Krümel Knäckebrot wird in einem speziellen Tagebuch notiert, aber fast immer endet der Tag mit dem Selbstvorwurf, »gefressen« zu haben. Einmal schreibt er: »Der Diabetes ist eine objektive Unterdrückungsmaschine im Gegensatz zum Katholizismus. Wäre das was: Den Diabetes zum Gott zu machen für ein schönes, neurotisches Ritual? Beichten, wenn ich gefressen habe. Beschwörungen, dass die Regelmäßigkeit zwischen Dosis, Diät und Blutzuckerwert (das Orakel) erhalten bleibt?« Das steht auch in jenem minutiösen Tagebuch, für ihn »mein Kompass durch den Sumpf«, »meine einzige Rettung vor dem Sumpf«, mit dem er sich die »Depressionen vom Hals geschrieben« hat.
Gehret schreibt besessen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, immer nach der Uhr. Am Anfang und Ende jeder Seite wird die Zeit vermerkt, manchmal mitten im Wort: »viel – 15:10–leicht«. Vier bis neun Minuten benötigt er für ein Blatt in seinen Kladden. Gehret sammelt Material dafür, wo es geht, schneidet belanglose Gespräche auf einem Tonband mit, das er mal in einem Backofen, mal in der Tasche versteckt, sammelt noch weggeworfene Tonbänder auf, die er im Müll findet, spricht seine Halluzinationen während eines LSD-Rausches ins Mikrofon, spielt mit Zuständen von Über- und Unterzucker, um die Bewusstseinszustände dabei zu protokollieren, liest Berge von Zeitungen und Büchern.
Er saugt Leben auf und sondert es in neuer Form wieder ab – wie in Trance. Gehret schreibt surrealistische Texte, die er selbst »Fölmene« nennt. Er geht mit dem Rekorder in der Hand durch die Straßen und diktiert mit fränkischem Akzent und leicht anstoßender Zunge, beinahe atemlos keuchend, weitere Texte, die er als »Dikdale« bezeichnet. Absurde Geschichten sind das, von Tanzlehrerministerien und Belobigungsbüros, Texte, die wimmeln von Schwarzwurzeltänzerinnen und Maikäferlikör, von Greisbrei und Darmgeschmeide. Ein Schlaflied ist auch dabei:
Ich habe die Decke über mich gezogen & die
Augenlider.
Und ich warte ein wenig
bis die Wörter kommen
Buchstabenbilder mit angeheiratetem Lautwerk
und Wortfühler
und Wortgliedmaßen
Assoziationen und anderes Spielzeug
Bewusstseinsreste und vergessenes Wissen,
(jedenfalls passt Netzhaut zu gefallenem Schnee,
und Kohlkopf zu Holzkuchen)
Natürlich passt das zusammen, ganz klar.
Nur nachdenken darf man nicht. – Sonst biste gleich
wieda wach.
Schreiben war für ihn Weiterträumen auf dem Papier, die große, ganz große Freiheit. Und die Fölmene waren Vorarbeiten, Stücke, an denen er für Größeres lernen, Werkzeuge, mit denen er sich hinuntergraben wollte ins eigene Innenleben. »Mit Fölmenen«, schrieb er, »finde ich den Weg nach unten.«
Beispiel eines Fölmens von Reinhard Gehret, geschrieben am 25. Dezember 1981 unter dem Titel »Schmerzhaft der Schweiß von Spezereien«. »23:47. Und im gummigepolsterten Zoo, neben dem Becken mit den Zitteraalen, erstrecken sich wie eine weite Reihe gelber Zähne die Schaufenster des Kaufhauses zur letzten Gelegenheit. Dort kann man Hüte kaufen und gebrauchte Nähmaschinen, Tabaksgemälde und Gesäße aus Porzellan. Alles ist ausgestellt und mit schlankem Rauch umhüllt, die Elektrizitätszigarren stehen auf Grün, automatische Münder öffnen sich und klappen zu, vergoldete Erbsen
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