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Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Titel: Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Hacke
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Berliner Untergrundliteratur, der unablässig erblühenden und wieder schließenden, sich gründenden und spaltenden Selbstverlage und Zwergeditionen, der Literaturoffensiven und Schreibzirkel. Dass er schrieb, wussten einige. Er hatte in Zimmern und Hinterzimmern Kurzgeschichten und Gedichte vorgelesen, alles andere aber verschwiegen. Vom Textgebirge in seiner Wohnung ahnte niemand etwas.
    Kreuzberg, Winterfeldtstraße 36. »Wieder einmal war es das überhebliche, selbstgefällige Getue, das Besserwissen,kurz, die Ablehnung (was wir indirekte Zensur nennen) unserer Texte von verschiedenen Verlagen, was uns dazu veranlasste, zur Selbsthilfe zu greifen.« So schrieb der Soziologiestudent Horst Walter Krowinn im Vorwort zu einem selbst verlegten Buch, in dem Texte jener veröffentlicht wurden, die sich jahrelang im »Literaturcafé« hier in der Winterfeldtstraße trafen, einer Zentrale der Unverstandenen und Verkannten.
    Die Hausnummer 36, deren Fassade sich heute in adrettem Alt- und Schweinchenrosa in den aufpolierten Kiez fügt, war ein besetztes Haus, als man 1981 hier das Café gründete, in dem schon bald Krowinn, Gehret und andere ihre Texte vorlasen und besprachen. Gehret fiel nicht weiter auf, es sei denn durch sein von der allgemeinen Neigung zum anerkennenden Schulterklopfen abstechendes Bedürfnis, hart zu kritisieren und kritisiert zu werden. Tausende, sagt Krowinn heute, seien in den Jahren an ihm vorbeigezogen, 140 Veranstaltungen habe man im Jahr gehabt. »In Berlin«, sagt Annegret Gollin, »sprießen die Dichter aus dem Boden, da kannste zugucken.«
    Gleich um die Ecke, in der Vorbergstraße, hatte die junge Frau einen kleinen Laden mit dem Namen »Rauchzeichen«, Buchhandlung und Vertrieb für Selbst- und Kleinverleger. Auch da saß man abends zusammen, auch da war Gehret dabei. »Wir hatten alle die gleiche Spinne«, sagt Annegret Gollin. »Wir glaubten, die großen Literaten zusein, Verrückte, die dachten, sie machen hier die neue Literatur.« Einmal veranstalteten sie in der Oranienstraße 58, wo früher der Kommunistische Bund Westdeutschland seine Zentrale hatte, eine Serie von Abenden unter dem Titel »Berliner, das ist Euer Schwindel«. Man wollte dadaistisch sein, hatte ein »Bruitistisches Ballet« im Programm und besprach die Frage »Ist Sozialismus Literatur?« Gehret las, die Augen rot-weiß-blau umringt, »aus dem Gesamtwerk«. Mancher hat in dieser Atmosphäre aus Hilflosigkeit und Enthusiasmus Schlüsselerlebnisse gehabt. Die Lehrerin Sigrun Casper zum Beispiel, die im Literaturcafé »meine Geburt als Schriftstellerin« erlebte, als einer ihrer Texte dort heftigen Beifall fand.
    Sonst dominiert das Scheitern. Wer das »Rauchzeichen« sucht, findet einen EDV-Laden, denn nach einigen Jahren gab Annegret Gollin unter einem Berg von Werken über Kochtöpfe, Kanarienvögel und Kriegserlebnisse resigniert auf. Aus dem Literaturcafé ist das schnieke kleine »Café Belmundo« geworden. In der Oranienstraße 58 lassen Arbeiter einer Renovierungsfirma Schutt durch einen großen grünen Kunststoffrüssel in ihre Container rasseln. Nebenan ist der U-Bahnhof Moritzplatz. Auch dort unten haben Krowinn und Kollegen laut ihre Texte vorgelesen. Straßenmaler und -musikanten? Warum nicht Straßenliteratur? Passiert sei aber, sagt er, leider nichts.
    In einem kleinen Zimmer in Berlin sitzt ein Mann undbearbeitet, was man in Gehrets Wohnung fand. Schreibt Text auf Text in einen Computer und lässt rasselnd den Drucker laufen. Schaufelt Worte hin und her und sagt, er sei manchmal »abgründig traurig, weil das eine Geschichte ist, wie man sich verpasst hat«. Dann wieder habe er »so eine Wut gegen den: Warum hast du mir das nicht gesagt?« Paul Schuster, der in Siebenbürgen ein bekannter Schriftsteller war und seit 1974 in Berlin im Exil lebt, veranstaltet Kurse im literarischen Schreiben, und bei denen hat auch Gehret mitgemacht, als, wie Schuster sagt, »ganz normaler Teilnehmer, der ein bissel bizarr aussah und der regelmäßig den Vogel abgeschossen hat, wenn er vorlas«. Was er sonst schrieb, erwähnte er nicht. »Er hat sich nicht getraut, mir diese verrückten Texte zu zeigen. Er hat gezweifelt.« Heute sitzt Schuster darüber wie »ein Bergmann an einem Wahnsinnsflöz«, und alle paar Wochen macht er neue »sensationelle Entdeckungen«. Natürlich will er davon was veröffentlichen, wenigstens jetzt, ja, natürlich, was denn sonst?
    »Egal, ich will mein Haupt erheben aus dem Meer der

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