Naechtliches Schweigen
Das tut mir leid. Ich habe selbst einen kleinen Jungen, der ist etwas älter als du, fast elf. Er hat sich den Arm gebrochen, als er auf dem Dach Rollschuhlaufen wollte.«
Beeindruckt sah sie ihn an. »Ehrlich?«
»Ehrlich. Die Nase hat er sich auch gebrochen. Er ist über das Dach hinausgeschossen und in den Azaleenbüschen gelandet.«
»Wie heißt er?«
»Michael.«
Emma hätte ihn gerne kennengelernt und gefragt, wie man sich fühlt, wenn man vom Dach fliegt. Es hörte sich sehr mutig an, wie etwas, das Darren gerne probiert hätte. Dann zerrte sie wieder an Charlies Fell. »Darren wäre im Februar drei geworden.«
»Ich weiß.« Lou nahm ihre Hand. Nach einer Weile schlössen sich ihre Finger um seine.
»Ich habe ihn am allerliebsten gehabt«, sagte sie schlicht. »Ist er tot?«
»Ja, Emma.«
»Und er kommt nie mehr zurück, auch wenn das ein Irrtum war?«
»Nein, tut mir leid.«
Sie musste ihn etwas fragen, etwas, was sie ihren Vater nicht zu fragen wagte. Ihr Vater würde weinen und ihr vielleicht nicht die Wahrheit sagen. Aber dieser Mann mit den hellen Augen und der ruhigen Stimme würde nicht weinen.
»Ist es meine Schuld?« In den Augen, die sich auf Lou richteten, lag abgrundtiefe Verzweiflung.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich bin weggerannt. Ich habe mich nicht um ihn gekümmert. Dabei habe ich versprochen, immer auf ihn aufzupassen, und das habe ich nicht getan.«
»Wovor bist du weggelaufen?«
»Vor den Schlangen«, antwortete sie ohne Zögern und erinnerte sich an den Alptraum. »Da waren Ungeheuer mit riesigen Zähnen, und die Schlangen.«
»Wo?«
»Um das Bett herum. Sie verstecken sich im Dunkeln und fressen gerne böse Mädchen.«
»Ich verstehe.« Lou zog seinen Notizblock hervor. »Wer hat dir das erzählt?«
»Meine Mama - meine Mama vor Bev. Bev sagt, da sind gar keine Schlangen, aber sie kann sie bloß nicht sehen.«
»Und in der Nacht, in der du gefallen bist, hast du die Schlangen gesehen?«
»Sie wollten mich nicht zu Darren lassen, als er weinte.«
»Darren hat geweint?«
Emma nickt, zufrieden, dass er an die Schlangen glaubte. »Ich hab' ihn gehört. Manchmal wacht er nachts auf, aber wenn ich ihn tröste und ihm Charlie gebe, schläft er ganz schnell wieder ein.«
»Wer ist Charlie?«
»Mein Hund.« Sie hielt Lou das Tier zur Besichtigung hin.
»Ein schöner Hund«, lächelte Lou und tätschelte Charlies staubigen Kopf. »Hast du Charlie in dieser Nacht zu Darren gebracht?«
»Ich wollte.« Ihr Gesicht umwölkte sich bei dem Versuch, sich zu erinnern. »Ich habe ihn mitgenommen, um die Schlangen und die Ungeheuer wegzuscheuchen. Die Diele war dunkel. Sonst ist sie nie dunkel. Sie waren da.«
Seine Finger krampften sich um den Bleistift. »Wer war da?«
»Die Monster. Ich konnte sie zischeln und tuscheln hören. Darren hat so laut geweint. Er brauchte mich.«
»Bist du in sein Zimmer gegangen, Emma?«
Sie schüttelte den Kopf. Ganz klar konnte sie sich selbst sehen, wie sie in der Diele stand und die Schatten um sie herum zischten und schnappten. »Nur an die Tür, da war Licht unter der Tür. Die Monster hatten ihn gepackt.«
»Hast du die Monster gesehen?«
»In Darrens Zimmer waren zwei Monster.«
»Hast du ihre Gesichter gesehen?«
»Die hatten keine Gesichter. Eins hat ihn festgehalten, so fest, dass er laut geweint hat. Er hat nach mir gerufen, aber ich bin weggerannt. Ich bin weggerannt und habe Darren den Monstern überlassen. Und sie haben ihn getötet. Sie haben ihn getötet, weil ich weggerannt bin!«
»Nein, nein.« Lou zog sie an sich und ließ sie sich ausweinen, während er ihr Haar streichelt. »Nein, du bist weggelaufen, um Hilfe zu holen, nicht wahr, Emma?«
»Ich wollte, dass Papa kommt.«
»Das war ganz richtig. Weißt du, Emma, in Darrens Zimmer, da waren keine Monster, sondern Männer, böse Männer. Du hättest sie nicht aufhalten können.«
»Ich habe versprochen, mich um Darren zu kümmern, nie zuzulassen, dass ihm etwas zustößt.«
»Du hast versucht, dein Versprechen zu halten. Niemand gibt dir die Schuld, Schätzchen.«
Aber da irrte er sich, dachte Emma. Sie selbst gab sich die Schuld. Und das würde sie immer tun.
Als Lou nach Hause kam, war es beinah Mitternacht. Er hatte Stunden an seinem Schreibtisch verbracht, hatte jede Notiz, jedes Fitzelchen an Information wieder und wieder überprüft. Als Cop mit jahrelanger Erfahrung wusste er genau, dass Objektivität absolut notwendig war. Dennoch berührte ihn der
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