Naechtliches Schweigen
den Notarzt gerufen. Wir haben sie nicht von der Stelle bewegt - wir hatten Angst davor. Dann haben wir die Sirenen gehört. Ich wollte mit ins Krankenhaus fahren, mit ihr und Brian, aber ich musste erst noch nach Darren sehen und Alice wecken, um ihr zu sagen, was passiert ist.
Dann habe ich Emmas Mantel geholt. Warum, weiß ich nicht, ich dachte nur, sie würde ihn vielleicht brauchen. Ich bin in die Diele gegangen. Ich war ärgerlich, weil das Licht nicht brannte. Wir lassen Emmas wegen immer Licht in der Diele an. Sie hat im Dunkeln Angst. Darren nicht«, meinte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Der hat vor gar nichts Angst. Wir lassen in seinem Zimmer nur die Nachttischlampe an, das macht es uns leichter, wenn er nachts aufwacht. Das kommt häufig vor, er hat gern Gesellschaft.« Ihre Stimme begann zu zittern, und sie legte eine Hand vor ihr Gesicht. »Er ist nicht gern allein.«
»Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, Mrs. McAvoy.« Doch sie war die erste am Tatort gewesen, hatte den Leichnam gefunden, hatte ihn berührt. »Ich muss wissen, was Sie vorfanden, als Sie den Raum betraten.«
»Ich fand mein Baby.« Energisch schüttelte sie Brians Hand ab, sie konnte es nicht ertragen, berührt zu werden. »Er lag auf dem Boden, neben seinem Bettchen. Ich dachte, oh, ich dachte, o Gott, er wollte herausklettern und ist hingefallen. Er lag so still da auf dem kleinen blauen Teppich. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich nahm ihn hoch, aber er wachte nicht auf. Ich schüttelte ihn, ich schrie, aber erwachte nicht auf.«
»Haben Sie irgend jemand gesehen, Mrs. McAvoy?«
»Nein, es war niemand oben. Nur das Baby, mein Baby. Sie haben ihn mir weggenommen, und sie wollen ihn mir nicht wiedergeben. Brian, warum, um Gottes willen, gibst du ihn mir nicht wieder zurück?«
»Mrs. McAvoy.« Lou erhob sich. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um den Schuldigen zu finden. Das verspreche ich Ihnen.«
»Was ändert das schon?« Sie fing an zu weinen, große, stille Tränen. »Was kann das schon ändern?«
Es würde etwas ändern, schwor sich Lou und trat in den Korridor. Es musste einfach etwas ändern.
Emma studierte Lou mit solcher Intensität, dass er sich unbehaglich fühlte. Soweit er sich erinnerte, war dies das erste Mal, dass ein Kind in ihm das Bedürfnis auslöste, sein Hemd auf Flecken hin zu untersuchen.
»Ich habe Polizisten im Fernsehen gesehen«, meinte Emma, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Sie erschießen Menschen.«
»Nur manchmal.« Er suchte nach Worten. »Siehst du gerne fern?«
»Ja. Darren und ich, wir mögen Sesamstraße am liebsten.«
»Und wer gefällt dir am besten? Ernie? Bert?«
Sie lächelte schwach. »Ich mag Oskar. Der ist so frech.«
Durch das Lächeln ermutigt, entfernte Lou das Gitter am Bett. Emma widersprach nicht, als er sich auf die Bettkante setzte. »Ich habe Sesamstraße schon lange nicht mehr gesehen. Wohnt Oskar immer noch in einer Mülltonne?«
»Ja. Und er schreit immer noch alle Leute an.«
»Ich schätze, das Schreien erleichtert manchmal. Weißt du, warum ich hier bin, Emma?« Anstelle einer Antwort drückte sie bloß einen alten schwarzen Stoffhund an sich. »Ich muss mit dir über Darren reden.«
»Papa sagt, er ist jetzt ein Engel im Himmel.«
»Dessen bin ich sicher.«
»Es ist nicht fair, dass er einfach so weggegangen ist. Er hat noch nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.«
»Er konnte nicht.«
Das wusste sie selber, denn tief in ihrem Herzen verstand sie, was geschehen musste, damit ein Mensch zu einem Engel wird.
»Papa sagt, dass Gott ihn bei sich haben wollte, aber ich glaube, das war ein Irrtum. Gott sollte ihn zurückschicken.«
Lou strich ihr übers Haar, von ihrer eigensinnigen Logik genauso angerührt wie vom Schmerz ihrer Mutter. »Es war ein Irrtum, Emma, ein ganz schrecklicher Fehler, aber Gott kann Darren trotzdem nicht zurückschicken.«
Sich eher rechtfertigend als schmollend, schob Emma die Unterlippe vor. »Gott kann alles tun, was Er will.«
Lou wurde klar, dass er sich auf unsicherem Boden bewegte. »Nicht immer. Manchmal tun Menschen Dinge, die Gott nicht in Ordnung bringen kann. Dann müssen wir das übernehmen. Ich glaube, du könntest mir helfen herauszufinden, wie es zu diesem Fehler gekommen ist. Willst du mir nicht von der Nacht erzählen, in der du die Treppe hinuntergefallen bist?«
Ihre Augen wanderten zu Charlie, und sie zupfte an seinem Fell. »Ich hab' mir den Arm gebrochen.«
»Ich weiß.
Weitere Kostenlose Bücher