Naechtliches Schweigen
verschlossen. Sie zog und zerrte daran; unterdessen wurden die Schreie ihres Bruders immer schriller und gingen nur dann und wann in der Musik unter. Unter ihren kleinen Fäusten gab die Tür langsam nach. Sie konnte den Mann sehen, aber er hatte kein Gesicht. Sie sah nur das Glitzern seiner Augen, das Glänzen seiner Zähne.
Er kam auf sie zu, und plötzlich hatte sie vor ihm noch mehr Angst als vor den Schlangen und Monstern, den Zähnen und Klauen. In blinder Panik rannte sie davon, von Darrens lauter werdenden Schreien verfolgt.
Dann fiel sie, fiel in einen dunklen Abgrund. Sie vernahm ein Geräusch, ähnlich dem Knacken eines trockenen Zweiges, und wollte ihre Angst laut hinausschreien, doch sie fiel, still, endlos, hilflos, und die Musik und die Schreie ihres Bruder hallten in ihrem Kopf.
Als sie erwachte, war es hell. Die Puppen saßen nicht mehr auf den Regalen. Da waren gar keine Regale mehr, nur noch kahle Wände. Zuerst fragte sie sich, ob sie wohl in einem Hotel sei. Beim Versuch, sich zu erinnern, begannen die Schmerzen - heiße, dumpfe Schmerzen, die überall gleichzeitig zu hämmern schienen. Stöhnend drehte sie den Kopf zur Seite.
Ihr Vater schlief in einem Sessel. Sein Kopf war nach hinten gesunken und ein wenig zur Seite gelehnt. Unter dem Stoppelbart wirkte sein Gesicht bleich, und seine Hände lagen, zu Fäusten geballt, im Schoß.
»Papa.«
Brian erwachte sofort. Er sah seine Tochter im weißbezogenen Krankenhausbett liegen, die Augen groß und angsterfüllt. Tränen stiegen in ihm auf, würgten ihn im Hals und brannten in den Augen. Mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war, kämpfte er sie nieder.
»Emma.« Er ging zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und drückte sein erschöpftes Gesicht an ihren Hals.
Sie wollte den Arm um ihn legen, aber der schwere weiße Gipsverband hinderte sie daran. Sofort breitete sich die Angst wieder in ihr aus. In Gedanken hörte sie jenes trockene Knacken und spürte den darauf folgenden brennenden Schmerz. Das war kein Traum gewesen - und wenn all das wirklich passiert war, dann musste der Rest auch...
»Wo ist Darren?«
Natürlich war das ihr erster Gedanke, dachte Brian und kniff die Augen fest zusammen. Wie sollte er es ihr nur beibringen? Wie konnte er ihr begreiflich machen, was er selbst noch nicht verstehen oder gar glauben konnte? Sie war doch nur ein Kind, sein einziges Kind.
»Emma.« Er küsste ihre Wange, ihre Schläfe, ihre Stirn, als könne er so irgendwie ihrer beider Schmerz lindern. Dann nahm er ihre Hand. »Erinnerst du dich noch an die Geschichte über die Engel, die ich dir mal erzählt habe, und wie sie im Himmel leben?«
»Sie können fliegen, machen Musik und tun sich nie weh.«
Ja, er war wirklich raffiniert gewesen, dachte Brian bitter. Da hatte er sich sehr geschickt angestellt, so eine schöne Geschichte zu erfinden. »Das stimmt. Manchmal werden ganz besondere Menschen zu Engeln.« Er suchte in den dunklen Ecken seiner Erinnerung nach seinem katholischen Glauben und stellte fest, dass dieser schwer auf seinen Schultern lastete. »Manchmal liebt Gott diese Menschen so sehr, dass Er sie bei sich im Himmel haben möchte. Und dort ist Darren jetzt. Er ist ein Engel im Himmel.«
»Nein!« Zum ersten mal, seit sie vor mehr als drei Jahren unter der schmierigen Spüle hervorgekrochen war, stieß Emma ihren Vater von sich. »Ich will nicht, dass er ein Engel ist!«
»Ich auch nicht.«
»Dann sag Gott, er soll ihn zurückschicken«, befahl sie wütend. »Jetzt sofort!«
»Das kann ich nicht.« Wieder kamen ihm die Tränen, und diesmal konnte er sie nicht zurückhalten. »Er ist fort, Emma.«
»Dann will ich auch in den Himmel gehen und mich da um ihn kümmern.«
»O nein!« Die Furcht schnürte ihm die Kehle zu und ließ die Tränen versiegen. Seine Finger krallten sich in ihre Schulter und hinterließen zum ersten mal Spuren auf der Haut. »Das kannst du nicht tun, Emma. Ich brauche dich. Ich habe Darren verloren, aber du musst bei mir bleiben.«
»Ich hasse Gott!« stieß sie wild hervor.
Und ich erst, dachte Brian, als er sie an sich drückte. Und ich erst.
In der Mordnacht hatten sich mehr als hundert Leute in und rund um das McAvoy-Haus aufgehalten. Lous Notizblock war mit Namen, Notizen und Eindrücken vollgekritzelt, ohne dass er jedoch der Lösung nähergekommen war. Sowohl die Tür als auch das Fenster vom Zimmer des Jungen waren geöffnet vorgefunden worden, obwohl das Kindermädchen darauf beharrte, das
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