Naechtliches Schweigen
dafür. Als ich Sie das erste mal sah, da dachte ich nur, die oder keine.« Er fuhr sich mit der Hand durch sein geltrunkenes Haar. »Ich stelle mich wohl ziemlich blöd an.«
»Tun Sie das?« Emma hatte das Gefühl, er müsse ihr Herz klopfen hören.
»Ja. Ich will es mal so formulieren: Emma, bitte retten Sie mir das Leben. Schenken Sie mir eine Stunde Ihrer Zeit.«
Langsam krümmten sich ihre Lippen, bis das Grübchen in ihrem Mundwinkel zu tanzen begann. »Aber gerne.«
Sie nahm die Musik und den anschließenden tosenden Beifall kaum wahr. Als das Konzert zu Ende war und ihr Vater, klatschnass geschwitzt, ein letztes Mal auf die Bühne kam, wurde ihr klar, dass schon ein Wunder geschehen musste, damit sie zumindest einige der Fotos, die sie geschossen hatte, verwenden konnte.
»Ich bin am Verhungern.« Brian, dem vor lauter Geschrei und Beifall die Ohren klingelten, wischte sich das Gesicht ab und ging Richtung Garderobe. »Was meinst du, Emma? Sollen wir diese Relikte der Rockmusik dazu überreden, irgendwo eine Pizza essen zu gehen?«
Emma zögerte; sie fühlte sich nicht unbedingt wohl in ihrer Haut. »Nun ja, ich würde schon gerne - ich hab' noch was zu erledigen.« Sie küsste ihren Vater flüchtig. »Du warst wundervoll.«
»Was hast du denn anderes erwartet?« wollte Johnno wissen, der sich gerade durch die Menge schlängelte. Er senkte seine Stimme zu einem heiseren Krächzen. »Wir sind eine Legende!«
Mit hochrotem Gesicht gesellte sich P. M. zu ihnen. »Diese Lady Annabelle - die mit den furchtbaren Haaren -, also die ist...«
»Die da drüben, in rotem Wildleder und mit Diamanten behängt?« fragte Emma.
»Ja, die. Irgendwie hat sie sich hinter die Bühne geschlichen.« Obwohl P. M.s Stimme betroffen klang, funkelte unterdrückte Belustigung in seinen Augen. »Als ich sie fortschicken wollte, hat sie - hat sie...« Er räusperte sich. Offenbar fiel es ihm schwer fortzufahren. »Sie hat versucht, mich anzumachen.«
»Großer Gott! Ruf die Polizei!« Johnno legte ihm beruhigend den Arm um die Schulter. »Solche Frauen gehören hinter Schloss und Riegel. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, Herzchen. Benutzt und beschmutzt, nicht wahr? Komm, schütte Onkel Johnno dein Herz aus. Wo hat sie dich denn angefasst, und wie? Du kannst ruhig ins Detail gehen.«
Brian lachte in sich hinein, als die zwei sich entfernten. »Unser P. M. zieht immer so aufgedonnerte Schnecken an. Man möchte es kaum glauben, wenn man ihn so ansieht.«
Sein Tonfall klang beinahe liebevoll. Doch plötzlich erstarrte sein Lächeln. Ein paar Meter entfernt lehnte Stevie schweißüberströmt und mit totenblassem Gesicht an der Wand. Er sah mindestens zehn Jahre älter aus als der Rest der Band.
»Komm, mein Junge.« Brian legte wie unabsichtlich einen Arm um Stevies Hüfte und stützte ihn. »Jetzt brauchen wir erst mal eine Dusche und was Herzhaftes zu essen.«
»Papa, kann ich dir helfen?«
Abwehrend den Kopf schüttelnd, führte Brian Stevie zu seiner Garderobe. Das hier war etwas, was er weder seiner Tochter noch sonst jemandem überlassen konnte. »Nein, ich kümmere mich schon um ihn.«
»Ich - ich seh dich dann später«, murmelte Emma, doch die Tür hatte sich bereits hinter ihm geschlossen. Da sie sich auf einmal verloren vorkam, machte sie sich auf die Suche nach Drew.
23
In den darauffolgenden Wochen verbrachte Emma ihre gesamte Freizeit mit Drew. Nächtliche Mahlzeiten zu zweit, Spaziergänge im Mondschein, eine gestohlene Stunde am Nachmittag. Diese Treffen waren um so aufregender, um so intimer, da sie so wenig Zeit füreinander hatten.
In Paris machte sie ihn mit Marianne bekannt. Sie trafen sich in einem kleinen Cafe am Boulevard St.-Germain, wo Touristen wie Einheimische bei Rotwein und Cafe au lait saßen, während die Welt an ihnen vorüberzog.
In ihren weißen Spitzenstrumpfhosen und dem engen, kurzen Rock wirkte Marianne eher wie eine Einheimische. Der Igelhaarschnitt war verschwunden, sie trug ihr leuchtendrotes Haar jetzt kurz und glatt, in sehr französischem Stil. Doch die Stimme, die Emmas Namen quiekte, war immer noch ausgesprochen amerikanisch.
»Du hier, ich kann's kaum glauben! Kommt mir vor, als wäre es schon Jahre her. Laß dich mal anschauen. Mann, siehst du gut aus! Widerlich!«
Lachend warf Emma ihr Haar in den Nacken. »Und du entsprichst haargenau den landläufigen Vorstellungen von einer französischen Kunststudentin. Trts chic et sensuel.«
»Das ist hier genauso wichtig
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