Naerrisches Prag
Menschenmenge, insbesondere auffallend gut gewachsener und hübsch und modern gekleideter junger Belgrader Bürger, mußte ich unwillkürlich an die Dame im marineblauen Firmendreß im Prager Reisebüro denken. »Nach Belgrad fährt niemand!«, was sogar anscheinend stimmte. Wir begegneten kaum einem Touristen. Aber vielleicht sollte man hier vorbeikommen, dachte ich im bequemen Korbstuhl auf einer Kaffeehausterrasse in der Nähe eines plätschernden Springbrunnens, vielleicht sollte man das empfehlen. Die wiederholt so schwer geprüfte Stadt und ihre Bewohner, die all die dramatischen und oft sehr tragischen Umstände durchhalten mußtenund durchhielten, haben – so empfand ich es an jenem strahlenden Augustmorgen – ein Anrecht auf zumindest aufrichtiges Interesse an dem Geschehen rings um sie und mit ihnen. Was übrigens für alle Menschen in allen Städten seine Gültigkeit hat.
Aber ich habe diese Reise ja nicht als Tourist schlechthin angetreten. Ich war mit einem festen Vorhaben gekommen. Meine Tochter sollte die Umgebung und das Milieu ihrer ersten Tage auf dieser Welt kennenlernen. Die Landschaft, in der sie ihre ersten Schritte wagte. Zum Glück fand ich mit überraschender Sicherheit die Straße und auch das Haus, in dem man uns im Sommer des Jahres 1946 endlich in einer großen Wohnung zwei Zimmer zugeteilt hatte; bis dahin haben wir zu dritt in Untermiete in einem Zimmer gehaust, in dem sich unser Leben in allen seinen Formen abspielte, vom Windelwaschen bis zu angeregten Diskussionen mit wiedergefundenen Freunden meines Mannes. In der Vierzimmerwohnung, in die wir schließlich einziehen durften, war noch ein junger Mathematikprofessor untergebracht und ein Ehepaar, das den Krieg in der jugoslawischen Partisanenarmee überlebt hatte. Die Küche wurde uns zugesprochen, weil wir ein kleines Kind hatten, das Badezimmer – ohne Heizung und ohne warmes Wasser – stand allen zur Verfügung. Im Winter veranstalteten dort die drei männlichen Insassen der Wohnung an jedem Morgen ein ohrenbetäubendes Chorkonzert, angeblich um beim Rasieren nicht zu erfrieren.
Im Treppenhaus, am Gitter des von einer Bombe getroffenen und unbenützbaren Aufzugs, hatte ich mit einer Fahrradkette den Kinderwagen festgemacht, um ihn nicht jedes Mal in das zweite Stockwerk hinauftragen zu müssen. Eines Tages wurde er gestohlen, nur die Ketteblieb zurück. Jetzt erzählte ich das an Ort und Stelle meiner Tochter und ihrem Mann und bedauerte, daß nicht auch meine erwachsene Enkelin mit uns war.
Die solide und reiche Fassadendekoration an dem Haus überraschte mich. Wahrscheinlich hatte ich vor Jahren nur Augen für meine Kleine gehabt, wenn ich auf der holprigen Straße den Kinderwagen über die zahlreichen Löcher und Buckel steuern mußte. Jetzt aber standen wir auf dem Hof, wo mir alles recht bekannt erschien. Die Pawlatschen – offene korridorartige Rundgänge entlang der Innenseite des Hauses – waren ja auch damals da und dienten uns zum Windeltrocknen.
Im zweiten, in »unserem« Stockwerk, saßen zwei Frauen auf Holzstühlen auf der Pawlatsche und beobachteten uns nicht gerade freundlich. Was wollen diese Fremden? Warum beglotzen sie alles, auch uns? Man hätte sie nicht hereinlassen sollen, bei uns gibt es doch nichts zu sehen. Und wer weiß, was sie vorhaben. Die weißhaarige Frau sollte lieber zu Hause sitzen und nicht hier herumschauen. Was kann die schon sehen?
Ich sah sehr viel. Meinen Mann und den jungen Mathematiker Nenad in angeregtem Gespräch auf der Pawlatsche, die gutherzige Marijka, die das Kind versorgte, während ich bei der Arbeit war, und durch die Küchentür ein und aus huschte. Die kleine Anna, die dort herumkrabbelte und serbisch nach den Tauben rief, die aber Marijka zu ihrem Unwillen ständig mit einem Geschirrtuch verjagte, denn vom Geländer baumelte Kinderwäsche. Das alles sah ich mit meinem verläßlichen inneren Auge.
»Wollen wir versuchen, einen Blick in die Wohnung zu werfen?« schlug mein Schwiegersohn vor.
Ich zögerte, sagte dann aber ja.
Als wir oben landeten – der moderne Fahrstuhl funktionierte lautlos und sicher –, standen wir vor einer weiß lackierten Tür mit einem glänzenden Messingschild. Mein Schwiegersohn drückte auf den gleichfalls glänzenden Klingelknopf. Die Tür ging auf, eine adrett gekleidete junge Büroangestellte erschien auf der Schwelle und gab uns, noch bevor wir ein Wort hervorbringen konnten, bekannt, der Chef sei nicht zugegen.
»Danke. Aber wir
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