Naerrisches Prag
plötzlich Angst, die Celetná könnte jetzt anders heißen, ein Schicksal, das in den letzten Jahren viele Gassen, sogar wiederholt, betroffen hat. Aber nein, hier stand noch der alte Name weiß auf rot auf dem Schild. Was hatte mir dergute Kisch in der mexikanischen Avenida Nuevo León, in der er damals wohnte, erzählt? Diese Prager Straße, durch die er in seiner Kindheit und Jugend aus seinem nahen Vaterhaus ungezählte Male gelaufen ist, gehört zu den ältesten in Prag, war schon immer ein Handelsweg vom böhmischen Osten zu den Märkten der Stadt. Und hat einen kuriosen Namen.
»Celetná«, überlegte ich laut, »kommt das vielleicht von Zelten, haben etwa Kaufleute hier ihre Zelte aufgeschlagen?«
»Ganz falsch«, freute sich der rasende Reporter über meinen Irrtum, »die Sache ist viel sympathischer. Bereits im 13. Jahrhundert gab es in dieser Gasse mehrere Bäcker, und die produzierten Zelte oder auch Zeltchen, Zeltlein. So hießen ihre kleinen flachen Kuchen. Sie konnten aber auch kunstvoll gekrümmt sein, hießen tschechisch ›calt‹. Wahrscheinlich sind sie die Vorfahren unserer Weihnachtsstriezel.«
»Aber die sind doch geflochten«, wandte ich ein, zufrieden, nun ihn bei einem Irrtum ertappt zu haben.
»Geflochten oder gekrümmt«, seufzte Egon, »auf jeden Fall Kunstwerke mit Rosinen und Mandeln. Reden wir von etwas anderem, sonst bricht mir das Herz.«
»Wahrscheinlich knurrt dir der Magen«, bemerkte ich trocken, um seine Wehmut im fernen Exil, seine Sehnsucht nach Prag und den vermißten Leckerbissen zu dämpfen.
Man kann mir getrost glauben, daß ich mit absoluter Sicherheit imstande war zu erraten, wem die Stimme gehörte, die in der Celetná für mich mit einemmal so vernehmbar war. Erneut setzte ich mich in Bewegung und lief in der Kuchenstraße weiter.
An ihrem Ende, bereits in unmittelbarer Nähe des Altstädter Rings, hatte man vor ein paar Jahren überraschend ein »Kisch-Café« eröffnet. Auf den Speisezetteln, die dort auf den Tischchen auslagen, wurde unter anderem ein »Eisbecher à la Egon Erwin Kisch« angeboten. Ich stutzte. Eine oft gebrauchte Redensart des Schriftstellers lautete: »Ich bin kein Freund von Süßigkeiten«, wobei er sich dann allerdings meistens an denselben kräftig bediente. In Gedanken daran verspürte ich mit einemmal richtigen Kuchenhunger. Ich beschleunigte meine Schritte, hatte die verlockende Vision einer Tasse Kaffee und einer Portion echter Sachertorte oder vielleicht auch eines Stücks geflochtenen Zeltleins im Kopf.
Schon von weitem erblickte ich auf dem Gehsteig vor dem Gebäude, über dessen Eingang »Kavárna Egona Ervína Kische« in den Stein geritzt ist, eine Tafel, offenbar mit dem Angebot des Tages. Als ich näher kam, las ich auf dem schwarzen Brett zufrieden die Inschrift in weißer Kreide: »Heute Pflaumenknödel aus Topfenteig«.
Hinter den großen Glasscheiben, dort wo die Tischchen und Stühle zu stehen pflegten, blitzte und funkelte es zu meiner Überraschung. War so etwas überhaupt möglich? Auch hier: Glas und Porzellan. Verfolgten mich diese Produkte?
Unschlüssig blieb ich stehen, las noch einmal das verführerische kulinarische Angebot auf der schwarzen Tafel und trat dann entschlossen über die Schwelle.
Wo sich früher eine kleine Garderobe befand, in der man seinen Mantel aufbewahren ließ, stand eine Frau und fragte bei meinem Anblick mißmutig:
»Sie wünschen? Der Eingang in den Laden ist links.«
Das klang mehr abweisend als einladend.
»Ich will gar nicht in den Laden. Ich hätte gern eine Portion Pflaumenknödel.«
Sie starrte mich an. »Was?«
»Pflaumenknödel«, wiederholte ich.
»Wir verkaufen Glas und Porzellan«, sagte die Frau ärgerlich und, wie mir schien, schon etwas gereizt.
»Auf der Tafel vor der Tür«, beharrte ich auf meinem Wunsch, »bieten Sie für heute Pflaumenknödel an. Aus Topfenteig«, fügte ich noch hinzu, um zu manifestieren, daß ich mich genauestens informiert hatte.
Es folgte ein tiefer Seufzer der Frau. »Wir verkaufen Glas und Porzellan«, wiederholte sie nachdrücklich, »das kann man schließlich sehen.«
»Vielleicht«, gab ich zu, »aber auf der Tafel vor der Tür ...«
Am Rande ihrer Geduld, hob die Frau beide Hände hoch und kreischte beinahe:
»Wir haben hier sehr wenig Platz, wie Sie selbst merken können, deshalb stellen wir die verdammte Tafel, die wer weiß warum hier übriggeblieben ist, tagsüber vor die Tür.«
»Aber das Angebot«, wagte ich noch
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