Naerrisches Prag
ist Prag auf einmal mit mir da. Meldet sich, läßt sichnicht übersehen, beruhigt mich, gewährt mir ein Gefühl warmer Sicherheit.
Mein Schwiegersohn hatte den Einfall, wir sollten einmal bis zur Endstation einer der zahlreichen Belgrader Straßenbahnen fahren, um kennenzulernen, wie es in den neuen Siedlungen am Stadtrand aussieht und wie die Menschen die Außenbezirke ihrer Stadt erreichen können.
Es war nicht ganz einfach, in einen der Wagen hochzuklettern. Sie haben kein Geländer, an dem man sich festhalten könnte, und die ungleichen drei Stufen zu erklimmen, erforderte zumindest für mich beinahe ein kleines Akrobatenkunststückchen. Man wird freilich von den ungeduldigen, auf dieses Verkehrsmittel trainierten Passagieren geschubst und geschoben. Oben angekommen, erwartete uns die nächste Überraschung. In den Belgrader Straßenbahnen darf geraucht werden, was auch reichlich ausgenützt wird. Hier sitzt oder steht auch noch ein Schaffner, der die Fahrscheine verkauft. Und selbst er hatte eine glimmende Zigarette zwischen den Lippen. Es gelang mir, einen Sitzplatz zu ergattern, meine Tochter stand vor mir.
»Das sind genau solche Wagen, wie wir sie vor ein paar Jahren auch in Prag hatten«, meinte sie, als es rings um uns, auch unter und über uns zu rasseln, klirren und poltern begann. Ächzend setzte sich das altersmüde Fahrzeug in Bewegung.
»Solche Exemplare gab es nicht«, wandte ich ein. »Schlimm genug waren sie, aber die hier sind noch ärger.«
»Ich kann mich gut erinnern«, ließ meine Anna nicht locker, »sie wackelten, rüttelten und kreischten genauso.«
»Nicht ganz so fürchterlich«, verteidigte ich die Prager Straßenbahn.
»O doch«, widersprach meine Tochter. »Übrigens sehe ich gerade ein Schildchen der Prager ČKD-Fabrik vor mir an der Wagenwand«, fügte sie triumphierend hinzu, »direkt über meinem Kopf.«
»Ihre Mutter hat recht«, ließ sich in diesem Augenblick eine Stimme vom Sitzplatz hinter mir tschechisch vernehmen. Ich fuhr verblüfft herum, erblickte einen stattlichen Sechziger, der belustigt lächelte und mit einem unverkennbar serbischen Akzent fortfuhr:
»Diese Wagen hat man in Prag nicht mehr in Betrieb gesetzt, aber hierher wurden sie noch verkauft. Das weiß ich verläßlich, ich habe nämlich die ČKD-Fabrik in Belgrad vertreten.«
Das war ein überraschender Schlußpunkt für unseren Streit. Der Mann war, wie er uns mitteilte, Ingenieur, hatte seinen Beruf bereits aufgegeben und arbeitete nun zu Hause »an Projekten«. Wir schwatzten noch ein wenig mit ihm, ehe er an der nächsten Haltestelle ausstieg.
»Eins Null für dich«, lachte meine Tochter. »Belgrad hat dir recht gegeben.«
»Nicht Belgrad, Prag«, konterte ich. Dann stiegen auch wir aus.
Habe ich nun mit diesem kurz befristeten und unleugbar eher touristisch durchgeführten Besuch die offene Rechnung für mich und vor allem für meine Tochter beglichen? Ein wenig vielleicht, keinesfalls ausreichend. Gewiß, wir begaben uns wiederholt nach Zemun, haben das Geburtshaus Theodor Balks gefunden, haben – insbesondere Anna – im dortigen städtischen Archiv nach Urkunden gesucht und dabei den standfesten Geist des einstigenk. u. k. Amtsschimmels in seiner unverwüstlichen Praxis erlebt. Wir haben auch im Jüdischen Museum in Belgrad und Zemun nachgeforscht, wo ich u. a. dem Verleger Pavel Bihali und seinem Bruder, dem unter seinem Schriftstellernamen bekannten Peter Merin, beide Jugendfreunde meines Mannes, wenigstens auf Fotos wieder einmal begegnet bin. Dennoch. Was nicht mehr ist, kann nicht nachgeholt werden. Es gibt eben Rechnungen, die offenbleiben.
Ich bin bekanntlich in Prag aufgewachsen. Dann kam die Hitler-Okkupation, in deren Folge ich als junges Mädchen eine Reihe von Jahren aus meiner Heimat verbannt war. Aber ich bin wiedergekommen. Und ehe die Stadt von mir und ich von ihr erneut Besitz ergreifen konnte, wurde ich abermals aus ihr verbannt, diesmal auf noch absurdere Weise. Denn in den schlimmen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war kein Feind in unsere Hauptstadt eingedrungen und war dennoch da. Wir bedienten uns der gleichen Sprache und konnten einander doch nicht verstehen. Dieser neue einheimische Feind war ungemein listig, ließ sich nicht greifen, stellte sich nicht. Er verfolgte seine Mitbürger aufgrund schamlos vorgetäuschter Ideale, in Wirklichkeit jedoch im Namen eines absoluten Machtanspruchs. Als eines seiner zahllosen Opfer setzte er auch mich für
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