Naerrisches Prag
wollen, direkt hingehen.«
Sie nahm einen ihrer Schlüssel zur Hand, öffnete die Tür am Ende des Korridors, und nach wenigen Schritten konnten wir einen größeren Raum betreten, der als Kapelle eingerichtet ist. Ich versuchte mir vorzustellen, für welches Vergehen ein Untersuchungshäftling vor dem kleinen Altar um Vergebung zu bitten kommt.
Undiszipliniert verließen meine Gedanken unseren Aufenthaltsort und schweiften in die Ferne, zur Madonna de la Garde auf der Anhöhe über Marseille. Dort sind es nicht reuige, sondern von Naturkatastrophen und schlimmem Kriegsgeschehen heimgesuchte Menschen, die nichts gestehen müssen, vielmehr der Schutzpatronin für ihre gnadenvolle Rettung danken. Das kann ich verstehen. Aber wie geht es hier vor sich? Was kann ein Schmuggler todbringender Rauschgifte, ein millionenfacher Betrüger, ein Mörder alter Menschen oder junger Mädchen in der bescheidenen Ruzyně-Kapelle zu seiner Entschuldigung vorbringen?
»Nebenan haben wir auch eine Moschee«, eröffnete uns die junge Frau im geblümten Kleid.
»Eine Moschee?« Mein Begleiter war ebenso überrascht wie ich.
Dieser Andachtsraum ist größer als die Kapelle oder ruft vielleicht nur einen solchen Eindruck hervor. Der Fußboden ist mit einem dunkelroten Teppich bedeckt, an der Wand sah ich allerhand mir unverständliche Glaubenssymbole, zumeist in goldenen Hieroglyphen. Ansonsten ist es hier leer.
Etwas unsicher sah ich mich in dem fremdartigen und dennoch mit seiner Ruhe anziehenden stillen Raum um. Befindet sich in Prag eine so beträchtliche Anzahl von Menschen dieses Glaubensbekenntnisses hinter Gittern, daß für sie eine Gefängnismoschee eingerichtet werden mußte? Ich wagte nicht, danach zu fragen. Zugleich beunruhigte mich der Gedanke, man könnte uns auch noch eine Anstaltssynagoge vorführen. Aber nichts dergleichen geschah zu meiner Erleichterung.
(»Wieso Erleichterung?« ließ sich Kisch unabweisbar abermals aus der noch luftigeren Höhe als der der Madonna de la Garde ganz deutlich, für mich ganz deutlich, vernehmen. »Unter Juden gibt es bekanntlich hervorragende Schwindler und Betrüger, vielleicht weniger Raubmörder und Kindesschänder. Für eine Handvoll Halunken würde sich ein Gefängnistempel wohl kaum auszahlen. Solche Dinge mußt du rein sachlich und absolut objektiv in Betracht ziehen.«)
Da schämte ich mich ein wenig für den Augenblick meiner gefühlsmäßig unobjektiv reagierenden Erwägungen, wollte aber keine weiteren Belehrungen aus dem Café im Prager Himmel entgegennehmen, wollte auch inder Prager Realität nichts mehr besichtigen, wollte das Gefängnis endgültig verlassen.
Wir bedankten uns bei der jungen Anstaltssprecherin für ihr höfliches Entgegenkommen und strebten dem Ausgang zu.
»Werden Sie über Ihren Besuch bei uns schreiben?« wollte die junge Frau im geblümten Kleid noch wissen.
Als ich in diesem Gefängnis als Untersuchungshäftling endlose Tage und Nächte, Wochen und Monate gedemütigt und schikaniert, ohne jeglichen Beistand und mit nur mühselig entfachten Fünkchen Hoffnung verlebte und überlebte, mußten viele Menschen, die in demselben Korridor atmeten oder mit mir zusammen im Aufzug, gleichfalls mit verbundenen Augen, irgendwohin transportiert wurden, gewaltsam umgebracht, unschuldig sterben. Das wußte ich damals nicht, begriff nicht einmal das Ausmaß der Gefahr, in der ich mich selbst befand.
Mit einemmal befiel mich würgende Angst, ob sich die Ausgangstür nun vor mir öffnen werde.
Aber diesmal war ich ja ein Gast, der gefragt wurde: »Werden Sie über Ihren Besuch bei uns schreiben?«
Ich riß mich zusammen, ließ diese Frage unbeantwortet. Eigentlich ist es nicht so schwierig, zu begreifen, warum ich einmal mit offenen Augen durch das Gefängnis gehen wollte, in dem mir über ein Jahr meines Lebens verlorenging. Wie ein Bach, der nutzlos im Sand versickert. Solche Vorhaben sind Posten in einer offenen Rechnung, die man begleichen muß, oder Lücken im Netzwerk des Daseins, die erfordern, geschlossen zu werden.
Es gab in mir noch eine andere, eine ganz andersartige Notwendigkeit, die auf ihre Erfüllung wartete und die ich zudem, so empfand ich es, meiner Tochter schuldig war.
Anna ist im Jahr 1946 in Belgrad auf die Welt gekommen. Mein Mann kehrte nach Kriegsende nach jahrelangem Exil in seine Heimat, das damalige Jugoslawien, zurück. Obwohl ich schwer daran trug, aus Mexiko nicht schnurstracks in mein geliebtes Prag heimzufahren, war es
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