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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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neuem auf, und alle Gäste, natürlich auch ich, verfolgten aufmerksam, wer jetzt hereinkam.
    Diesmal war es eine ganze Familie. Ein deutsch sprechendes Ehepaar und vier Kinder. Die stürzten nicht zum nächsten Tisch, sondern zu dem großen gekühlten Glaskasten mit Schokolade- und Mokkatorten, Obst- und Mandelgebäck und selbstverständlich auch mit dem traditionellen Apfelstrudel. Drei kleine Mädchen und ein etwas größerer Junge hatten die Qual der Wahl. Als es ihren Eltern nach freundlichem, zugleich aber auch energischem Zureden gelang, sie zum Weitergehen zu bewegen, glänzte die Glasscheibe des Kastens nicht mehr spiegelblank. Jetzt zierten sie die Abdrücke mehrerer Kinderhände.
    Die Familie ließ sich an meinem Nebentisch nieder. Die drei kleinen Mädchen schubsten einander auf dem braunen Sofa zurecht, der Junge holte nach einem Blick in die Runde mit der Selbstverständlichkeit eines erfahrenen Weltmannes noch einen Stuhl von einem anderen Tisch herbei.
    Nach einer Weile zog eine der Kleinen, deren Haare lustig mit bunten Wollfäden durchflochten waren, aus ihrem winzigen Rucksack etwas hervor, schüttelte es ein wenig und hielt es dann verzückt hoch. Ich sah eine hölzerneGliederpuppe mit langen grünen Haarsträhnen und grün von Kopf bis Fuß.
    Das Kind bemerkte meinen aufmerksamen Blick, rutschte von dem Sofa hinunter und kam mit dem grünen Hampelmann im Arm auf mich zu.
    »Schau«, sagte das kleine Mädchen und hielt mir ihre Holzpuppe entgegen.
    »Sehr schön«, bemerkte ich.
    »Das ist ein Wassermann«, wurde ich belehrt, »aber er lebt auf der Straße.«
    »Glaube ich nicht«, wandte ich ein. »Ein Wassermann lebt unter dem Wasser, und wenn er auf der Straße sein muß, mag er das gar nicht.«
    »Unter dem Wasser spielt er mit Fischen?« fragte das kluge Kind.
    »Wahrscheinlich«, bestätigte ich. »Und wie wirst du mit ihm spielen?«
    »Das weiß ich noch nicht«, sagte die Kleine und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. »Er ist so schön grün, deshalb wollte ich ihn haben. Manche Puppen in dem Laden waren traurig.«
    »Traurig?« Ich horchte auf. »Wieso?«
    »Ganz dunkel und mit schwarzen Hüten und solchen Gesichtern«, und sie stülpte die Unterlippe ein wenig vor und zog eine kleine Grimasse. »Mutti meinte, mit denen kann man gar nicht spielen.«
    Oliva, fiel mir ein. Hat mir sein stummer Absinthtrinker diese Begegnung zugedacht? Dem kleinen Mädchen sagte ich:
    »Den Wassermann hast du gut gewählt. Der weiß viele Märchen und Geschichten. Frag deine Mutti, die kennt bestimmt etliche.«
    Und gerade da kam die Mutter des Kindes zu uns herüber und erkundigte sich besorgt:
    »Belästigt Sie unsere Milenka nicht?«
    »Ganz im Gegenteil, wir verstehen einander sehr gut«, sagte ich und fügte noch überrascht hinzu: »Ihre Kleine heißt Milenka?«
    »Ja«, lautete die Antwort, »nach meiner Großmutter aus Böhmisch Budweis. Und zudem haben wir noch eine Hildegard, eine Elisabeth und einen Roger. Der Junge hat seinen Namen nach dem Vater meines Mannes, der Franzose ist.« Die Frau lachte ein wenig in mein verwundertes Gesicht. »Ein bißchen kompliziert, nicht?«
    »Nein, keineswegs«, protestierte ich. »Eher gut und schön. Sind Sie zum erstenmal in Prag?«
    »Ach wo, wir kommen recht oft, ist ja nicht weit von München. Die Kinder haben auch schon ein paar Brocken Tschechisch aufgeschnappt.«
    »Dobrý den«, rief Weltmann Roger, der vom Nebentisch alles genau verfolgte, zu uns herüber, »guten Tag.«
    Ich sah mich um, war in dem Augenblick fast sicher, daß der stumme Stammgast, in seinem Rahmen in dem Bild an der Wand festsitzend, dem Wassermann im Arm der kleinen Milenka verstohlen und verschwörerisch zublinzelte.
    Wir plauderten noch ein wenig, dann verabschiedete ich mich von der sympathischen Familie, mußte dabei dem Wassermann Milenkas die grüne Hand schütteln, und verließ schließlich die Slavia.
    Die laute Straße umfing mich mit selbstverständlicher Vertrautheit. Prag, in tschechischer Sprache das Femininum Praha, kann launenhaft sein wie eine Frau, setzt in den letzten Jahren mitunter ein unpassend aufdringlichesMake-up auf. Aber das ist nur eine oberflächliche Schminke, ein Zugeständnis an die kommerziellen Unarten der Zeit. Das wahre Antlitz der Stadt läßt solche ungewollten Veränderungen gelassen über sich ergehen, mein Heimatort hat seine Erfahrungen und bleibt, was er schon immer war: unser wunderbar närrisches Prag.
    Prag, 2004

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