Naerrisches Prag
was bislang so geheimnisvoll zu sein schien, weil jäh hinter einer Wolke strahlend die Sonne aufging, vielleicht, weil vom nahen Spielplatz vergnügtes Kinderplappern an meine Ohren drang, vielleicht, weil mich ein vorbeilaufender kleiner Dackel mit seinen langen warmen Ohren streifte. Wer weiß, wie so etwas funktioniert.
Die drei Tische könnten drei Zeiten sein, summte es plötzlich ganz hell in meinem Kopf. Wieso ist mir das nicht schon längst klar geworden? Was einst gewesen ist, bleibt in uns. Was ist, umgibt uns, und wir können es sogarmitgestalten. Was sein wird, können wir ahnen, ja auch planen, aber nur am Rande beeinflussen.
So überlegte ich völlig in mich gekehrt an einem schönen Frühlingstag auf einer Holzbank der Sophieninsel zwischen einem Rasen und einem Blumenbeet.
Auf dem mit Kies bestreuten Weg näherte sich eine Frau in einer aufdringlich violetten Strickjacke und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung neben mir auf die Bank fallen. Ich schloß vorsichtshalber die Augen. Es nützte nicht.
»Ich will Sie nicht stören«, erklang es prompt neben mir, »aber in der Sonne soll man nicht schlafen. Das ist ungesund.«
»Danke«, sagte ich und schlug die Augen lieber wieder auf, »ich schlafe nicht, ich denke bloß nach.«
»Mache ich auch«, fuhr meine Sitznachbarin redelustig fort, »aber man soll es nicht übertreiben. Sind Sie Lehrerin?«
»Nein.«
»Oder gar vom Nationaltheater?« Die Frau wies mit der Hand auf das Gebäude hinter unseren Rücken.
Ich schüttelte den Kopf.
»Aha, also von der Universität, wie? Habe ich mir gleich gedacht, so was erkenne ich nämlich sofort. Dort muß man ja nachdenken, anders geht das nicht.«
»Ich bin nicht von der Universität«, teilte ich ihr, jetzt schon amüsiert, mit.
»Macht nichts.« Die Frau war friedfertig. »Und wenn ich fragen darf: Worüber denken Sie nach?«
»Über drei Tische.«
»Über drei Tische?« Ihr blieb der Mund offen stehen, zugleich rückte sie ein wenig von mir ab. »Wie kann manüber drei Tische nachdenken? Aha«, und sie kam wieder ein bißchen mehr an mich heran, »man ist bei Ihnen eingebrochen, passiert ja jeden Tag, und hat Sie bestohlen. Aber gleich drei Tische? Die Leute haben vor nichts mehr Respekt. War das in der Wohnung oder in Ihrem Wochenendhaus?«
»Nein, nein«, sagte ich und erhob mich. »Niemand hat mir etwas angetan. – Bleiben Sie gesund und auf Wiedersehen.«
»Sie müssen schon gehen?« Die Frau war sichtlich enttäuscht. »Na, bleiben Sie auch gesund, trotz der schlechten Luft in Prag. Und immer so weiter.«
Immer so weiter, trotz der schlechten Luft in Prag? Ein frommer Wunsch. Aber selbst in dieser Luft ist ja weder alles schlecht noch alles gut, überlegte ich. War an diesem Tag offenbar philosophisch gestimmt. Was in vergangenen Zeiten war, bleibt in ihr. Neben vielem Bösen und Unverzeihlichem auch der ganze Reichtum an Gedachtem und Vollbrachtem in dieser Stadt. Und das ist nicht nur der schaurige Golem, der schlaue brave Soldat Schwejk und der gequälte Träumer Franz Kafka, der endlich einen Platz zwischen einer Kirche und einer Synagoge zugeteilt bekam.
Was war, schwingt in uns weiter, ließ mich dieser Gedanke noch nicht los, es bedingt unser Verhalten, ob wir es zugeben oder nicht. Was war, kann eine drückende Last sein. Auch eine tapfer erworbene Erkenntnis, ein fester Boden, wenn man mit offenem Kopf und Herz mit seiner Vergangenheit umgeht.
Was ist, erleben wir auf Schritt und Tritt, können es hinnehmen, sogar versuchen, es zu beeinflussen. Gegenwart ist unentrinnbar, kann Glück oder Unglück sein, auch Jetzt oder Nie.
Was sein wird, können wir befürchten oder herbeiwünschen, Zukunft kann ein Traum sein, auch ein guter oder ganz miserabler Vorsatz. Je nachdem.
Könnten das in der Tat die drei Tische sein, an denen man selten, aber doch nur gleichzeitig sitzen kann? So wie in der Natur der Winterschlaf, das Frühlingserwachen und die Sommerreife untrennbar zusammengehören und trotz ihrer zeitlichen Folge in ihren Früchten eins sind.
Und das geheimnisvolle Wesen? Mein Begleiter, Mahner und Beschützer ohne erfaßbares Gesicht? Ist es männlich oder weiblich? Dürfte ich in diesem Zusammenhang einen Wunsch äußern, wäre mir männlich zweifellos lieber.
Solch unsinnigen Erwägungen hing ich an jenem Frühlingstag auf der Sophieninsel nach.
Müde von dem angestrengten Grübeln und auch ein wenig ausgetrocknet durch die eifrig wärmenden, die lange
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