Naerrisches Prag
aber ich konnte es dort einfach nicht mehr aushalten.«
»So etwas verlangt aber Mut«, warf ich ein.
Sie seufzte. »Die Jungfrau Maria stand mir bei, sonst hätte ich es nicht fertiggebracht. Sie hilft mir immer.«
Die Kosmetikfabrik ermöglichte Boženka einmal mit anderen Arbeiterinnen ein verlängertes Wochenende in einer Betriebshütte im Riesengebirge. Das war der erste und einzige Urlaub in ihrem Leben.
»Wir haben dort viel Spaß gehabt«, erinnerte sie sich schmunzelnd noch nach all den Jahren, »haben auch zusammen gesungen, wobei jede ein Lied vorschlagen mußte. Zuerst habe ich mich geschämt, aber wir waren ja nur unter Frauen ...«
»Nur unter Frauen?« Unsere Tochter, inzwischen im Backfischalter, wunderte sich. »Und das war lustig?«
Die beiden, die alternde Frau und das junge Ding, führten jetzt miteinander lange Gespräche. Boženka klebte auch nie mehr eine Gurkenscheibe an ihre Stirn. Vielleicht hat man ihr in der Kosmetikfabrik ein anderes Mittel gegen Kopfschmerzen empfohlen. Von unserer Tochter erfuhr ich auch, daß unsere fromme Hausgehilfin nur einmal im Leben eine ganz kurze Liebschaft hatte. Das war ein junger Soldat aus ihrem Dorf, und als er sie einmal küßte, geriet Boženka in Panik, hatte Angst, sie könnte davon ein Kind bekommen, und wollte ihn nie wieder sehen.
In dem Frauenheim in unserer Nähe wohnte sie in einem ganz kleinen Zimmer, das mit einem Gaskocher und einem Waschbecken mit nur kaltem fließendem Wasser ausgestattet war. Trotzdem fühlte sie sich in ihren knappen vier Wänden glücklich, insbesondere weil sie,wenngleich über einer hochfrequentierten und lärmenden Straße, einen winzigen Balkon hatte, auf dem sie eine üppige Blumenpracht heranzog.
Seit sie nicht mehr »Dienstmädchen« war, hatte sie ihre Scheu und Zurückhaltung überwunden, unterhielt sich auch mit mir zutraulich und führte mit meinem Mann oft recht lange Gespräche. Nie hat sie uns gefragt, ob wir gläubig sind, aber wann immer sie es für angebracht hielt, versprach sie, die Jungfrau Maria auch für uns um Beistand zu ersuchen.
An allen katholischen Feiertagen fuhr Boženka nach Hause, vor allem auch, um auf dem Dorffriedhof das Grab ihrer Eltern zu besuchen und frisch zu bepflanzen. Sie hatte einen Bruder, der in ihrem Geburtshaus lebte und bei der Eisenbahn angestellt war. Auch seine Frau arbeitete bei der Bahn, bediente im Nachbardorf manuell die Bahnschranken. Von ihnen hatte Boženka zwei Neffen.
Wenn ich sie in dem Frauenheim besuchte, was bei ihrem fortschreitenden hohen Alter immer häufiger geschah, wurde ich von der Pförtnerin stets sehr herzlich willkommen geheißen. »Wie geht es dem Herrn Doktor?« erkundigte sie sich, was mich ein wenig überraschte. »Ist er schon aus dem Krankenhaus zurück?« Und ein andermal: »Ist Ihr Töchterchen mit den Tanzstunden zufrieden?«
Zuerst berührte es mich ein bißchen sonderbar, daß die Frau so ausgiebig über uns informiert war. Mit der Zeit erfuhr ich jedoch von Boženka auch allerhand aus dem Dasein ihrer Mitbewohnerinnen in dem Heim und begriff, daß dort berichtet und erörtert wurde, was das Leben der Frauen, auch in bescheidenen Formen, bereicherte oder bekümmerte.Das Haus, in dessen vierter Etage man uns eine Wohnung zugeteilt hatte, war ein nüchterner, eher unschöner Neubau. Als ich zum erstenmal ein Fenster aufstieß und der Ausblick in einen kleinen Park führte, beruhigte ich mich: Du wirst dich hier schon eingewöhnen. Sieh dich ordentlich um, lerne deine Umgebung kennen, schließlich ist das doch auch ein Teil von Prag. Und so durchstreifte ich den kleinen Friedhof am unteren Ende unserer Straße, auf dem zu früheren Zeiten Künstler und Persönlichkeiten vor allem von der Kleinseite bestattet wurden und wo bekanntlich auch Wolfgang Amadeus Mozarts Prager Gastgeberin und Liebe, die schöne Sängerin Josefine Dušek, ihre ewige Ruhe fand. An der abschließenden Straßenkreuzung entdeckte ich ein wenig überrascht eine gründlich ruinierte Synagoge, in der jahrelang Gemüse gelagert wurde. Die wurde derzeit in anerkennenswertem Tempo erneuert und beherbergt nun das Archiv der Prager Jüdischen Gemeinde. Unweit von diesem einstigen Gebetshaus steht sein schon erwähnter Kollege, die bestens instand gehaltene Hl. Wenzelskirche, der Zufluchtsort unserer Frau Boženka.
Meine nähere Bekanntschaft mit diesem Stadtviertel machte ich am Ende der fünfziger Jahre des vor kurzem beschlossenen Jahrhunderts. Beim Einzug in
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