Naerrisches Prag
Messe in der Hl. Wenzelskirche in Prag.«
Von der Kirche zogen wir mit der Musik zu einem kleinen Friedhof, mußten dabei eine recht belebte Bezirksstraße überqueren und verursachten damit einen mittleren Stau. Auf einem Baum über dem offenen Grab zwitscherten zur Trompetenmusik unbekümmert ein paar Spatzen. Als der Pfarrer das Gebet beendete und die Musik verstummte, war ich sicher, daß die Jungfrau unsere Boženka mit offenen Armen aufnahm. Wir aber begaben uns jetzt alle in ein nahes Wirtshaus.
»Wie geht es Ihrer Tochter Anna in England?« rief mir dort von einem Nebentisch eine völlig fremde Frau aus Boženkas Dorf zu. »Schreiben Sie noch Bücher?« erkundigte sich eine andere. »Und versteht die kleine Philipa Tschechisch?« wollte eine behäbige Tante von einem weiteren Tisch wissen.
Da wurde mir ganz warm ums Herz, denn ich begriff:Alle im Dorf hatten Kinder und Kindeskinder, erzählten stolz oder auch besorgt, wie es ihnen ging. Und Boženka? Auch sie mußte nicht leer ausgehen, auch sie konnte bei ihren Besuchen zu Hause etwas erzählen. Sie hatte uns.
Was aber hat das Begräbnis der Frau aus einem böhmischen Dorf mit meinen Streifzügen durch Prag gemein? Das Wesen, das sich gleichzeitig an drei Tischen niederlassen kann, runzelt, so scheint mir, ein wenig die transparente Stirn. Ich gehe in diesem Augenblick gerade an der Hl. Wenzelskirche vorbei und glaube es zwischen den Rosenstöcken vor ihrem Tor zu wissen.
»Unsere Frau Boženka hat eine lange Reihe von Jahren in dieser Stadt gelebt«, bemerke ich, obwohl es der Unsichtbare zweifellos weiß. Mit ihrer Bescheidenheit und natürlichen Klugheit, mit ihrer Gutherzigkeit, aber auch Strenge, wenn sie es für richtig hielt, wurde sie für mich ein nicht fortzudenkender Bestandteil des erstaunlichen, verwirrenden und zugleich bereichernden lebendigen Miteinanders in unserem Prag. Die Brücken und die Burg, die Paläste und die von der Geschichte berührten Plätze wären öde ohne solche Menschen.
Ich weiß: Wenn von dieser Stadt die Rede ist, bin ich kaum objektiv, durchaus nicht gerecht, verhalte mich wie Eltern, wenn von ihrem Kind gesprochen wird. Hier ist es allerdings umgekehrt: Ich bin ein Kind von Prag.
Aufgewachsen bin ich in der Vorstadt Karlín, zu deutsch Karolinenthal, und ich war fassungslos, als im Jahr 2002 gerade dort die wild gewordene Moldau mit ihrem »hundertjährigen Hochwasser«, so hieß es in den amtlichen Meldungen, in die Straßen raste, Häuser zum Wankenund Einstürzen brachte, die Menschen aus ihren Wohnungen vertrieb und alles gnadenlos überflutete.
Gewiß, das Wasser drang auch in die Altstadt ein, verschonte die Alt-Neuschule nicht, eine der ehrwürdigsten Synagogen Europas, löschte einen Teil der für immer an die Wände der Pinkas-Synagoge angeschriebenen Namen im Holocaust vergaster und verbrannter Bürger des Landes, ließ die liebliche Oase der Kleinseitner Insel Kampa unter einer schmutzig trüben Wellenbrandung verschwinden – aber in den Zeitungen las ich und aus dem Rundfunk und Fernsehen vernahm ich immer wieder: Am schlimmsten ist es in Karlín.
In meinem Karolinenthal?
Dort hatten meine Eltern eine Eisenwarenhandlung, die uns offenbar bis zur allgemeinen Wirtschaftskrise in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ganz ordentlich ernährte. Dann begann es schwierig zu werden, und so hat man verschiedene Versuche unternommen, um das Geschäft zu erhalten. Zu solchen Maßnahmen gehörte es auch, daß das Sortiment im Laden eines Tages um Skier bereichert wurde. Das waren in jenen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes »Bretter«, Sportgeräte aus Holz verschiedener Länge. Dazu Bambusstöcke mit Lederschlaufen für die Handgelenke und mit Aluminiumringen am unteren Ende.
Als ich mit einer Garnitur dieses Sportgeräts bedacht wurde, war ich im siebenten Himmel. Als es auch noch heftig zu schneien begann und die Königsstraße, in der sich das Geschäft und unsere Wohnung befanden, von einer dichten Schneemasse bedeckt wurde, schnallte ich meine Bretter gleich vor dem Haus an.
Meine Mutter schüttelte entsetzt den Kopf. »Was fälltdir da wieder ein? Das geht doch nicht, was werden die Leute sagen? Man kann doch nicht auf der Straße ...«
»Kann man, Mutti! Schau wie schön!« Und ich machte mich schnell auf den Weg, um einem dann unanstreitbaren Verbot zuvorzukommen. Mein Ziel war der nahe Invalidenplatz mit einer Art Böschung am hinteren Ende.
Unterwegs schüttelten die Erwachsenen
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