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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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philologischen Verstand, dass das Wort »Glück« sinnlos sei. Sein Mitleid leuchtete zärtlich auf und wurde fast zu Liebe, wenngleich nicht für lange. Eigentlich nur für eine Minute, aber eine von den Minuten, die im ganzen Leben eines Menschen höchstens eine Viertelstunde ausmachen, ihm aber in dessen winterlichsten und düstersten Winkeln Wärme spenden.
     

9
    Eines Tages wurden die heimatlichen Gefilde einer Perestroika unterzogen und von Glasnost erfüllt. Die sowjetische Festung barst und bekam Risse, plötzlich herrschte Zugwind darin. Er drang durch alle Ritzen, und die leibeigenen Insassen gerieten in Bewegung, husteten, ächzten und kamen allmählich, gähnend und die Augen aufreißend, herausgestolpert. Sie reckten den Hals nach dem Duft des Westens, erdachten sich ein neues Paradies in Form von Paris und Supermärkten anstelle der sowjetischsozialistischen Misswirtschaft und des herrenlosen planetaren Kolchos, gelobt von Uljanow Iljitsch, der, gestern noch als großes Licht gepriesen, nun laut als Schwein und blutrünstiger Spinner beschimpft wurde.
    Die Geister gerieten in Verwirrung, und die als Lakaien Geborenen und in die Freiheit Geworfenen fielen teils in eine komatöse Ergebenheit, teils in vulgärsten Nihilismus. Parteibosse schimpften auf die Partei, Komsomolzen gründeten undurchsichtige Banken oder Börsen, Fähnriche verdingten sich als Killer, Helden der sozialistischen Arbeit verscherbelten in aller Stille die Rüstungs- und Erdölindustrie, versteckten Dollars in Waschmaschinen und Datschen-Klos, während sie in ihrer Freizeit Kundgebungen abhielten, auf die Reformatoren schimpften und um die verlorene Größe der Roten Macht trauerten. Wenn sie aber genug getrauert hatten, wischten sie sich Tränen, Rotz und Schleim ab, trafen sich in privaten Cafes mit flinken dunkelhäutigen Individuen und verschacherten und verschleuderten die gesamte Rüstungsindustrie, die geliebte Heimat, das ruhmreiche, teure Vaterland, und weinten, weinten immer wieder. Verkauften, weinten, verkauften wieder. Schön! Schön war das ...
    Jegor empfing die Umwälzungen ohne Veränderung seiner Stimmung; seiner Ansicht nach lebte es sich unter jedem Regime amüsant, denn das Leben schien ihm unter keiner Macht sonderlich klug eingerichtet, das herrschende Regime also nebensächlich. Eines Tages verließ er mit Igor Fjodorowitsch das Büro, um auf dem Markt nun nicht mehr defizitäres deutsches Bier und polnisches Gebäck zu kaufen - mit Schokolade, für Iwetta. Auf halbem Wege fühlte sich Jegor ein wenig unbehaglich und wusste nicht gleich, warum. Irgendwie wimmelte es plötzlich von merkwürdigen Gestalten, sie kamen ihnen entgegen, liefen neben ihnen, überholten sie oder schnauften in ihrem Rücken - stämmige Jungs in karierten Hosen, aus dem Secondhandladen oder aus Decken und Vorhängen geschneidert, oder in Karottenjeans - damals zwei, drei Wochen lang der letzte Schrei - unbekannter Herkunft, die nach kurzzeitiger Allgegenwart plötzlich ebenso rasch wieder verschwanden, in den Müll geworfen und vergessen. Ein paarmal tauchten auch falsche Adidas-Trainingsanzüge mit ausgebeulten Knien auf. Allzu viele dieser Jungs bevölkerten das Trottoir, es wurde geradezu eng. Und dann waren sie plötzlich auf allen Seiten, ließen sie nicht weitergehen, umringten sie und sahen sie an.
    Jegor erschrak bis zur Empfindungslosigkeit, so dass er die Angst selbst nicht spürte. Die Jungs waren aus Ljuberzy, Banditen der ersten demokratischen Welle. Igor Fjodorowitsch versuchte zu fliehen, verfing sich aber in den Trainingsanzügen und Karottenjeans, kassierte einen kurzen, aber überzeugenden Handkantenschlag gegen die Kehle und war still.
    »Na, Chief, nun haben wir dich erwischt«, knurrte einer der Karierten. »Schönen Gruß von Botinok. Wir gehn jetzt rüber auf den Hof da drüben, da erschießen wir dich. Keine Angst, wird nicht wehtun, Kopfschuss von hinten, das merkst du gar nich. Aber keine Tricks, keinen Krach. Und wer ist der hier? Was 'n das für 'n Kunde?«
    »Nichts weiter, nur ein Arbeitskollege, ein Redakteur, er hat nichts damit zu tun.« Igor Fjodorowitschs überraschend kaltblütiger Ton verblüffte Jegor. »Lasst ihn in Ruhe.«
    Der Karierte sah Jegor lange in die Augen. Jegor blickte in sich hinein, drinnen war es leer und unerwartet still, wie mittags auf dem Lande.
    Der Karierte ging ein paar Schritte beiseite, die Trainingsanzüge und Karotten drängten sich um ihn, mit Ausnahme der drei, die

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