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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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plötzlich traten die von dem rudimentären Lachen erleuchteten wahren Dinge zutage - die Sonne, die Gärten, Beete und Herden, die Kirche und die Häuser, der Wald, die Wiese und der Fluss. Dem Namen nach dieselben, waren sie anders als ihre verschwundenen Namensvettern und Doppelgänger nicht hohl und aufgeblasen, nicht von innen heraus verzehrt und zu Mulm zerkaut vom flinken schlüpfrigen Tod, sondern im Gegenteil fest und saftig, auf ewig aus dem soliden Stoff der Stille geschaffen.
     

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    Nach dem Dienst als Fallschirmspringer, den er mühelos und nicht ohne Vergnügen absolvierte, was ein wenig überraschte bei jemandem, dem der Philosoph Husserl ein Begriff war, beschloss Jegor, seine Existenz auf ein Minimum zu beschränken. Denn er meinte, je weniger intensiv der Mensch existiere, desto weniger Böses scheide er aus, desto weniger verschmutze er also die ihn umgebende Leere. Er war bestrebt, so still wie möglich zu leben, und fand eine Stelle als einfacher Redakteur in einem riesigen Staatsverlag, in einer Unterabteilung für Nichtpublizierbare Amerikanische Poesie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Job war goldrichtig, ein gemütlicher Ruheposten. In dieser Unterabteilung landeten aus allen Verlagen der UdSSR Werke und Übersetzungen von Werken amerikanischer Dichter des genannten Zeitabschnitts, die aus diesem oder jenem Grund, aus welchem, wurde nie erklärt, verboten waren oder einfach wegen ihrer künstlerischen Nichtigkeit, mangelnden Aktualität oder geschmacklicher Launen der Zensoren nicht »in Druck und an die Öffentlichkeit« gelangten. Diese Texte wurden in der Unterabteilung NAP in Perioden (60er, 70er ...), Genres (Lyrik, Epos, Liedtexte ...) sowie nach Qualität (Meisterwerk, gute Arbeit, nicht dies noch das, Graphomanie ...) sortiert und teils gesammelt, teils an zwei Adressen verschickt. An einen gewissen Janis Anselmowitsch Mensche und an einen gewissen I. Ju. Kusnezow. Wer diese Bürger waren, was sie mit der Nichtliteratur und dem Verbotenen machten, war unbekannt.
    Vor literarischer Übersättigung verfiel Jegor selbst der Graphomanie, fühlte sich mitunter als Dichter (zum Glück nicht lange), beteiligte sich an literarischen Scheinbewegungen gegen die offiziöse Literatur, an Rockgruppen, die sich zusammenfanden, um sich einen Namen zu geben, den Diebstahl der Boxen und der Hi-Hat aus dem Kulturhaus Bitumen zu erörtern und sich am Ende der Überlegungen und Debatten unverzüglich aufzulösen, und an illegalen Protestbesäufnissen. Übersetzte etwas von Gregory Corso und Allen Ginsberg. Und hörte in unserem »unrhythmischen Land« mit dem verdorbenen Gehör vermutlich als Erster die obszönen schwarzen Verse wilder Rap-Poeten.
    Sein Arbeitsplatz war ein nanogroßes Zimmerchen gegenüber dem Schalttafelraum, in dem sich der herausragende verkannte Mallarme-Übersetzer und Elektriker Onkel Tolja fast täglich mit billigem Wein betrank, sich einen elektrischen Schlag holte, wie wild schrie und anschließend von den Putzleuten zum Sanipunkt getragen und nach der dort empfangenen Ersten Hilfe in die Ausnüchterungszelle weitertransportiert wurde. In Jegors Zimmerchen war die gesamte Unterabteilung untergebracht, das heißt neben Jegor die Chefin der Unterabteilung Iwetta Iwanowna Buch und ihr Stellvertreter Igor Fjodorowitsch Tschernenko. Einziger Untergebener dieser Führungspersönlichkeiten war also Jegor.
    Doch die beiden Persönlichkeiten führten nicht sonderlich, die Sitten in der Unterabteilung waren eher familiär. Iwetta Iwanowna war eine Frau mit einem mächtigen Rumpf von unglaublichem Umfang. Ihr Tisch war überhäuft mit teils in ausländische Lyrik eingewickelten, teils offen herumliegenden Pasteten, Brötchen, Brezeln, Buchteln, mit Wasserkochern, Teekannen, Tassen, mit Gebäck, Konfekt, Konfitüre, kandierten Früchten und weiterem Zubehör leidenschaftlichen Teetrinkens. Sie schnaufte, schlürfte Tee und kaute unentwegt, ohne eine Pause zum Arbeiten einzulegen, sie tat nichts und zwang auch die anderen nicht dazu. Jegor machte ihr, die sorglos alterte wie alle Menschen, die keinen Tag in ihrem Leben wirklich schön und gesund gewesen sind und deshalb mit den Jahren nichts zu verlieren haben, sarkastische Komplimente, die in ihrer Zweideutigkeit für jeden sich maßvoll ernährenden Menschen beleidigend gewesen wären. Aber Iwetta war fett und darum weichherzig, herzlich aus Faulheit, vom übermäßigen Speck. Seit fünfzehn Jahren war sie drauf und dran,

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