Nahe Null: [gangsta Fiction]
sich in ihren langjährigen Kollegen und Zimmergenossen Igor Fjodorowitsch zu verlieben, kam aber nie dazu - die Brötchen und Gelees, das Mischka-Konfekt, die Baisers in Schokolade lenkten sie jedes Mal ab. Sie waren leichter zu lieben und sahen eindeutig appetitlicher aus als Igor Fjodorowitsch, der von bulgarischen Java-Zigaretten durchräuchert, bis zur Hüfte mit Schuppen übersät und viel zu dünn war und eine unschöne, ungleichmäßig fleckige Glatze bekam. Außerdem war er mit einer Frau verheiratet, die ebenso dick war wie Iwetta, so dass es rein körperlich schwierig erschien, ihn der glücklichen Rivalin auszuspannen. Überdies galt er als der europaweit beste Spezialist für Wallace Stevens und deklamierte dreimal am Tag in reinstem Amerikanisch »Thirteen Ways of Looking at a Blackbird«. Damit war Iwetta, die ursprünglich Gewerkschafts- oder Parteifunktionärin gewesen und zur Abteilungsleiterin abkommandiert worden war, die nie etwas gelesen hatte und Cummings und Kerouac weder visuell noch nach dem Gehör unterscheiden konnte, offenkundig keine Partnerin für ihn. Übrigens natürlich auch keine Feindin, überhaupt waren alle drei Insassen des Zimmerchens gute Kameraden und pflegten miteinander jene keine Opfer verlangende Freundschaft, wie sie zwischen Arbeitskollegen entsteht, die in einer hochnichtigen Staatsangelegenheit ihren sauberen, unanstrengenden Dienst tun. Die Natschalniks bekamen mehr als hundert Rubel Gehalt, Jegor exakt einen Hunderter.
Ein wenig faul geworden, heiratete Jegor quasi am Arbeitsplatz, ohne die Grenzen seiner verschlafenen, unverbindlichen Existenz zu verlassen. Zerstreut und ohne Appetit ehelichte er Sweta, eine ebensolche 100-Rubel-Redakteurin wie er selbst, die eine Etage höher saß und, verglichen mit Iwetta Iwanowna, geradezu traumhaft aussah, eine Traumfrau sozusagen. Sweta schuftete in der Unterabteilung für Literaturdenkmäler der Zivilisationen von Tlön und Uqbar, konnte perfekt Tlönisch und lernte nebenbei Uqbarisch. Beides waren tote Sprachen, und von literarischen Werken war der Wissenschaft nichts bekannt. Die Unterabteilung war im Eifer der sensationellen Ausgrabungen in Patagonien gegründet worden, als Tlön und Uqbar gerade entdeckt worden waren und alle Welt nach den ersten Schädeln und Perlen unglaubliche, darunter auch lyrische und epische, Schätze erwartete. Doch die Schädel und Perlen waren nach einigen Jahren alle ausgegraben, Schätze jedoch nicht gefunden worden. Umsonst also hatte die vorauseilend gegründete und in der Vorfreude auf große literarische Entdeckungen mit großzügigen Haushaltsmitteln ausgestattete Unterabteilung auf einen tlönischen Molière oder einen uqbarischen Jessenin gehofft. Das gesamte Schrifttum von Uqbar erschöpfte sich in der Erfassung von allerlei Besitz, von Viehbeständen, Heuvorräten und ähnlichen niederen Notwendigkeiten. Die Hieroglyphen von Tlön priesen recht eintönig Könige und berichteten furchteinflößend von der Anzahl getöteter Feinde. Von Literatur auch hier keine Spur. Die Unterabteilung aufzulösen, hatte man entweder vergessen oder sich geniert, und statt literarische Quellen zu studieren, lösten ihre Mitarbeiter Kreuzworträtsel, lasen irgendwelchen versehentlich nicht verbotenen Unfug der Brüder Strugazki und tratschten über die neuesten Abenteuer von Onkel Tolja. Sweta allerdings war Enthusiast(in). Sie korrespondierte mit sämtlichen tlönsprachigen Spezialisten der Welt - davon gab es fünf, sie selbst nicht mitgerechnet. Und paukte, Gott weiß warum, Uqbarisch. Nicht, dass sie glaubte, dass sich noch dramatische oder poetische Meisterwerke in diesen Sprachen auffinden lassen würden, aber sie hielt ihre Arbeit für etwas Besonderes und nährte damit ihre Eitelkeit. Jegor empfand für sie hilfloses Mitleid, wie er es in seinen ersten Lebensjahren für sein Spielzeug empfunden hatte und später für alle Frauen, die er näher kennenlernte. Sie stritten sich häufig, Sweta fluchte auf Tlönisch, Jegor im Rapperslang, so dass sie sich selbst im Streit kaum verstanden und einander darum selten böse waren. Er wollte auf keinen Fall Kinder, weil er fand, er habe nicht das Recht, jemandem das Leben und folglich den dieses unvermeidlich begleitenden Tod zu schenken, ohne ihn nach seinem Einverständnis zu fragen.
Dennoch kam, nicht gleich, sondern zur Unzeit, als ihre Ehe bereits auf die Scheidung zuging, Nastja zur Welt, und er schloss daraus mit seinem kühlen, beinahe
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