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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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behäbige KPdSU-Zivilisation selbst wie ein langweiliger, preisgekrönter Roman gestrickt war. Das Lesen bändigte also die unruhigen Geister in der allgemeinen, träge dahinfließenden Brühe des ersterbenden Lebens.
    Jedoch begriff Jegor mit der Zeit, dass er kein ganz gewöhnlicher Leser war. Formal gehörte er zur untersten Leserklasse, wie Tschitschikows Petruschka, der, wie es heißt, das Lesen als Prozess mochte, bei dem Buchstaben zu Silben werden, Silben zu Wörtern, diese zu Sätzen, die oft weiß der Teufel was bedeuten. Das Thema des Werks, sein Sujet, die beschriebenen Gegenstände und Wesen interessierten Jegor nicht. Im Gegenteil, Wörter, abgetrennt von Gegenständen, Zeichen, entrückt von den erstarrten Körpern, und Symbole, losgelöst von der sogenannten Realität, waren für ihn die Attraktion und Freude. Ihn interessierten die Abenteuer von Namen, nicht die von Menschen.
    Namen rochen nicht, schubsten und schmatzten nicht. Die praktische Ausstattung des Lebens - die dichte Ansammlung von Menschen, von Knochen, Haut und Fleisch, sehnig, fetttriefend und metallisch schmeckend, die angetauten Organe des wilden Moskau, davon zehrten seine Kräfte, daraus war seine tägliche Oberfläche geschaffen - trennte Jegor sorgfältig von der tiefen Erhabenheit des Weltgebäudes, wo in einem blendenden Abgrund fleischlose, steuerlose, sittenlose Wörter spielten, sich frei miteinander verbanden, auseinanderliefen und mitunter zu wunderbaren Mustern verschmolzen.
    Seine Lektüre war so bizarr, dass es sinnlos wurde, seine Eindrücke mit irgendwem teilen zu wollen. Denn auf die Fragen nach seinen Lieblingswerken brachte er nach einigem Zögern mit Mühe zum Beispiel etwas heraus wie: Gregor von Nyssas Brief an Tibull »Nicht drei Götter«, ein Sonett ohne Titel, das John Donne zugeschrieben wird, und ein paar einzelne Absätze aus
Neuland unterm Pflug
. Und das im besten Fall, als am leichtesten fassbar.
    Sein Geschmack und seine Kenntnisse waren sonderbar, und sehr bald sah er selbst, wie einsam und vollkommen ausgeschlossen er von jeglicher menschlichen Untergruppe war. Auf erstaunliche Weise war das, was er für sein Ich hielt, wie in einer Nussschale eingeschlossen und passte in all seiner Grenzenlosigkeit in diese, kratzte von innen daran, konnte sie aber nicht sprengen. Außen wanderten seine Schatten herum, seine Puppen und Vorstellungen, die jedoch mehr von den Zuschauern, den Bewohnern des äußeren Raumes, gesteuert wurden als von ihm selbst.
    Er fand, er sei beschaffen wie ein Autist, der, fast vollständig nach innen gewandt, eine Verbindung zu den Teilnehmern außerhalb seiner Grenzen nur simuliert, mit verstellten Stimmen mit ihnen spricht, die er ihnen abgelauscht hat, um in dem ihn von allen Seiten umgebenden tosenden Moskau ein Buch, Essen, Kleidung, Geld, Sex, Macht und andere nützliche Dinge zu bekommen.
    Er war überzeugt, dass der göttliche Mainstream des wahren Wissens ziemlich leer und unbewohnt war, dass in seinem Strom selten Menschen vorkamen, sich hingegen an den Rändern von Gottes Wirken Menschenfleisch dicht und üppig sammelte. Die Bürger drängten sich lieber im dunklen Schlamm an den verschmutzten Ufern, hielten sich im Seichten auf, wühlten im Trüben zwischen Gerüchten und Aberglauben und waren mit keinem Zuckerbrot von dort in die Mitte zu locken, wo frei und ruhig das weiße Licht strömte.
    Er hörte etwas, was er weder summen noch beschreiben konnte, aber deutlich vernahm und genau verstand - selbst durch den Lärm und die Störgeräusche der seifenblasenartigen, eitel wuselnden Gegenwart/Vergänglichkeit hindurch. Es war das triumphierende und - wie Giottos Fresken - flache und reglose Lachen der ursprünglichen Stille, das, eine ganze Ewigkeit vor uns ausgesendet, bis heute für einige wenige, deren Gehör auf besondere Weise geschädigt ist, nachhallt.
    Dass er es hörte, begriff er eines Tages in der Kindheit, als eines blendenden Julimittags auf einmal alle Grillen zugleich einen ebenso gleichmäßigen, flachen und klaren Ton erzeugten, nicht höher als die Stille und darum wie sie erscheinend. Direkt vor seinen Augen fiel das Gewebe der Sichtbarkeit, die umhüllende Leinwand der Schönheit ab. Die Nähte der Zeit wurden aufgetrennt, platzten auf, die späteren Schichten fielen ab. Wie ausradiert, verschwunden. Das Flüsschen leuchtete auf wie ein Blitz; Wald und Wiese rollten sich zusammen wie Pergament; die Sonne verschmolz wie ein Schatten mit dem Himmel. Und

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