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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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attackiert worden waren und noch attackiert wurden. Noch eine Woche lang hatte sich Jegor gekratzt und dabei an seine unfeierliche Initiation denken müssen. Olga, so hieß das Mädchen, war in jenem Sommer zu Besuch bei den Eltern von Ryshik, ihrem Cousin, aus Tambow, wie er sich erinnerte. Es war ihr letzter Sommer in Lunino gewesen.
    Jegor schleppte sich bis zur Weggabelung. Links lag Lunino, rechts der Friedhof, auf dem außer den Verstorbenen aus Lunino auch solche aus Rhewsk und Urussowo lagen, winzigen, von Gott, dem Zaren, der Sowjetmacht und der neudemokratischen Macht vergessenen Dörfern. Statt fruchtbarer Erde gab es dort nur Lehm und salzigen Sand. Doch auch Lehm und Sand waren zu knapp; sie bedeckten den harten Boden kaum genug, um einen Sack Saatkartoffeln auszubringen, geschweige denn, um Tote zu beerdigen. An den schmalen Teich von Urussowo waren Antonina Pawlowna und der kleine Jegor bei den ersten wärmenden Sonnenstrahlen gegangen, um scheue Karauschen zu angeln.
    Einmal war Jegor auf eine im Wermut am Wegesrand liegende zerbrochene Flasche getreten und hatte sich am Fuß eine tiefe blutende Wunde zugezogen. Die Großmutter kreischte auf, warf die Angeln hin und lief mit Jegor auf dem Arm zum nächstgelegenen der neun Häuschen von Urussowo. Doch auf ihr Geschrei kam niemand heraus. Weder aus dem ersten Haus noch aus dem zweiten, dem dritten, dem vierten, dem fünften. Auf dem Hof des sechsten Hauses jagte ein lockenköpfiger Mann in Parade-Offiziershosen, die von oben bis unten wie auf einem Schlachtfeld besudelt waren, ein Huhn. Wie sehr die Großmutter auch jammerte - zwar hörte er ihr Flehen und Schreien, verfolgte aber noch an die zwanzig Minuten lang das Huhn, zauberte, als er es schließlich zu packen bekommen hatte, wie ein böser Magier ein Beil aus der Luft und hackte dem Huhn den Kopf ab, wobei er die Haustreppe als Richtblock benutzte. Danach erst kam er zur Pforte und fragte: »Was willst du?«
    Doch das neben der Treppe und dem Beil liegengelassene kopflose Huhn sprang plötzlich auf, rannte erneut über den Hof und bespritzte den überall verstreuten Unrat mit Blut. Auch zu dem Mann lief das Huhn und besudelte ihn. Mit einem höhnischen Grinsen versetzte der ihm einen Fußtritt, so dass es bis zur Treppe flog und dort endgültig verstummte. Vor Entsetzen erstarrt, hörte Jegor nicht, wie sich die Großmutter, nun bereits schimpfend, mit dem Hühnerhenker auseinandersetzte. Nur den letzten Satz bekam er mit. »Ihr müsst zum Feldscher. Geht nach Lunino.«
    Antonina Pawlowna spuckte in seine Richtung und ging los, um ihren kalkweißen Enkel nach Lunino zu tragen. Der Mann holte sie ein, hielt sie an, riss quasi aus der Luft ein übergroßes Wegerichblatt, drückte es Jegor in die Hand (»Hier, halt das drauf, das hilft«) und ging nach Hause, offenbar noch nicht ganz fertig mit dem Huhn. Am Ortsausgang von Urussowo fragte Jegor: »Oma, warum sind sie alle so böse?« Statt einer Antwort bückte sich die Großmutter, nahm etwas Staub vom Boden und hielt ihn ihm an die Lippen. Jegor leckte und behielt ihn eine Weile auf der Zunge. »Und?« - »Salzig.« - »Eben, das ist es.«
     

35
    Jegor wusste nicht, wohin er wollte, und zögerte darum an der Gabelung. Erst wollte er ins tote Lunino, auf den Friedhof, zur Großmutter. Doch als er in seinem Inneren eine trostlose Trauer spürte und einen tückischen Schmerz, so weit wie der blasse Himmel über ihm, begriff er, dass er auf dem Friedhof einfach zwischen die Kreuze und Gräber fallen und sofort sterben würde, wie jemand, der, von einer langen, unsinnigen Reise mit schrecklichem Gerüttel und endlosem Umsteigen erschöpft, sich beim Anblick im Bett liegender Reisegefährten sofort dazu legen würde.
    Er nahm den linken Weg, zum lebenden Lunino. Er war darauf gefasst, dass alles, was ihm als Kind grenzenlos und weit erschienen war, ihm von der Höhe seiner heutigen Größe klein und nah vorkommen würde, doch nicht darauf, wie viel kleiner und näher. Den Fluss, in dem er mehrfach beinahe ertrunken war, der groß genug gewesen war zum Schwimmen, zum Fischen mit Netzen und Reusen, für den Bau von Staudämmen, für Reisen an geheimnisvolle Gestade, für gruselige Geschichten über Ertrunkene, diesen großen Fluss, seinen Mississippi, den er sich vorgestellt hatte, wenn er Tom Sawyer las, diesen Fluss überquerte er diesmal nicht über die Brücke, ja, nicht einmal mit einem Sprung, sondern mit einem bloßen Schritt. Das Dach des

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