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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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Dorfladens, der Schätze wie Lebkuchen und Konfekt, manchmal sogar prickelnde Brause bereitgehalten hatte, reichte ihm gerade mal bis zur Schulter. Der Klub, in dem Filmvorführungen und Tanz, erste Flirts und Messerstechereien stattgefunden hatten, noch nicht einmal. Die Apfelbäume waren halb so hoch wie Jegor, die Häuser von Puppengröße. Das vor der Sanitätsstelle angekettete Motorrad mit Beiwagen stammte eindeutig aus dem Kinderkaufhaus; Jegor hätte sich nicht draufsetzen, geschweige denn damit fahren können. Er ging bis zum Haus der Großmutter und schaute von oben darauf und in den schwarzen Schornsteinschlund. Die ganze Umgebung sah seltsam aus, was Jegor jedoch nicht sehr erstaunte, da er nicht ganz bei sich war und all diese Absurditäten wie im Traum betrachtete - ohne jede Panik. Übrigens war alles sauber, frisch und gepflegt. So hatte sich ihm Lunino bislang nur in seinen Erinnerungen präsentiert, in Wirklichkeit war es selbst in seinen besten Zeiten weit dürftiger gewesen.
    Er bückte sich und wollte gerade die Tür öffnen, um in das vertraute Haus zu treten, als aus dem Nachbarschuppen eine Gestalt gepurzelt kam. Ein Männchen rollte heran, das wie ein gealterter Märchen-Pfannekuchen aussah - dicker Kopf, Melonenbauch, ganz und gar rundlich und glatt, verpackt in eine Wattejacke und eine Schirmmütze - und das bei jedem Wort mit dem braunen Schnurrbart und den behaarten Ohren wedelte; eine ungewöhnliche und darum sofort wiedererkannte Gestalt.
    »Onkel Kolja«, rief Jegor. »Hallo. Erkennst du mich?« - »Hallo, klar erkenne ich dich, aber ja«, antwortete Onkel Kolja, wie es schien, nicht sonderlich aufrichtig. »Na, wie geht es dir?« - »Gut.« - »Moment mal, Onkel Kolja, wie alt bist du jetzt? Ich bin schließlich schon über vierzig. Siebzig? Sieht man dir nicht an! Hast dich gut gehalten.« - »Warum auch nicht? Ich störe keinen, liege zu Hause herum, und keiner nervt mich, keiner schlägt mich, warum soll ich mich nicht gut halten? Und wenn ich noch hundert Jahre so herumliege, bin ich immer noch wie neu.« - »Moment mal, Onkel Kolja, mir fällt gerade ein, ich weiß genau, jemand hat mir erzählt, du wärst gestorben. Genau, du wärst tot.« - »Vielleicht bin ich auch tot. Hier ist es doch Tag für Tag dasselbe. Da kannst du sterben und merkst es nicht mal. Ist alles eins. Vielleicht bin ich ja tot, das lässt sich von außen besser beurteilen.« - »Erinnerst du dich denn an mich?« - »Ja, schon, aber deinen Namen hab ich vergessen.« - »Ich bin Jegor, Jegor Samochodow.« -»Schön, also Jegor - warum bist du hergekommen?« - »Ich hatte Durst. Also bin ich vorbeigekommen, einen Schluck Wasser trinken.«
    Im Laufe dieser absurden Unterhaltung, bei der Jegor sich nicht entscheiden konnte, ob er sich über das Gespräch mit einem nach zuverlässigen Informationen längst Toten wunderte oder ob ihm sein Gedächtnis einen Streich spielte, noch, warum auch Onkel Kolja, wie alles in diesem sonderbaren Lunino, so klein war - er reichte ihm nur bis zur Hüfte und passte genau zu den Häusern und Bäumen, die von einem Spielplatz zu stammen schienen, und zu dem Pferd von der Größe eines Hundes, das den Kopf durch einen Spielzeugzaun steckte -, mitten in diesem Gespräch fiel Jegor blitzartig wieder ein, warum er hier war. Nicht der Wunsch, die Heimat wiederzusehen (die sich buchstäblich als kleine Heimat entpuppte), hatte ihn beinahe aus dem fahrenden Auto geschleudert, sondern unerträglicher Durst. Dass es in der Kamas-Kabine schwül war wie in einem schmutzigen Topf, in dem seit Tagen ein abgelagerter Fernfahrer im eigenen Saft dünstete, war Jegor bewusst geworden, als Wassili seinen morastigschwarzen Kwass trank. Da hatte auch Jegor Durst bekommen, rasenden Durst, und da war draußen »Lunino« vorbeigehuscht und hatte unter dem Schmerz, dem Durst und dem Trümmerhaufen seines Schicksals das Bild von Jegors Quelle heraufbeschworen.
    Wie Mondlicht, so erschreckend sauber und sengend kalt war das Wasser, das urplötzlich pulsierend aus dem Sand unter dem russischen Riedgras sprudelte und das eine große, mehrere Schritte messende, an den Rändern versickernde Lichtung im grünen Dunkel am Fluss bildete. Dieses Wasser musste man kniend trinken. Ganz vorsichtig, und dabei die goldglänzenden Staubkörner und Grashalme vom ikonenhaften Spiegelbild des eigenen Gesichts pusten und es schamhaft auf die eisigen Lippen küssen. Ganz sanft, kaum richtig trinkend, um nichts vom sandigen

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