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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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Grund zu schlucken, eher als küsse man das Wasser wie ein wundertätiges Bildnis, aus dem lächelnd der Quellengott schaut, einem braungebrannten Jungen ähnlich.
    Diese von Jegor entdeckte Quelle, vermutlich vor nicht allzu langer Zeit weit außerhalb des Dorfs aus der Erde entsprungen, war lange sein Geheimnis geblieben. Stundenlang lauschte der Junge, wie der Sand mit dem Wasser und den Sonnenflecken zu der vom Säuseln der Sommerluft erfüllten Stille tanzte. Und selbst nachdem er Ryshik und Olga in sein wunderbares Geheimnis eingeweiht und das ganze Dorf von der Quelle erfahren hatte, kam niemand, sie zu erweitern und zu vertiefen, denn in dieser segensreichen Entfernung vom Dorf interessierte sich niemand dafür, das war zu weit zum Wasserholen, es gab näher gelegene Brunnen. So hieß sie bald Jegorkas Quelle. Sie lebte in seiner Erinnerung weiter, wurde dort in langen Jahren mit Hilfe neuester Mnemotechniken poliert und geschliffen und sah nun aus wie ein Hochglanzbild, wie eine unglaublich schöne Erinnerung an das Glitzern einer süßen Erfrischung, in der direkt über dem Wasser eine Libelle stand und hoch am Himmel der Wind, die Spur eines Flugzeugs, ein Stern.
    »Soll ich dir was zu trinken bringen?«, fragte Onkel Kolja.
    »Kennst du Jegorkas Quelle? Da will ich hin. Ich weiß noch, das ist irgendwo in dieser Richtung.« Jegor wies mit seinen Verbänden in das allmählich aufglühende Abendrot. »Aber wo genau, hab ich vergessen.« - »Ich weiß, wo, aber das ist weit. Du bist ziemlich blass. Schaffst du das denn?«
    »Ich muss, ich muss dorthin«, wich Jegor aus, unsicher, ob er es schaffen würde.
     

36
    Sie liefen fast eine Stunde, der eine wurde mit jedem Schritt schwächer, der andere war durch seinen Wuchs und seine kurzen Beine ohnehin benachteiligt. Während sie sich dahinschleppten, erzählte Onkel Kolja, wie der Vorsitzende des nach den Reformen zugrunde gegangenen Kolchos, durch Geldmangel zu irrwitzigen Ideen getrieben, Jegorkas Quelle zur kommerziellen Wunderquelle des hl. Georg erklärt hatte. Den Namen des Wehrhaften hatte er wegen des ähnlichen Klangs und aus Anlass des Tschetschenienkrieges gewählt. Er setzte das Gerücht in die Welt, das Wasser schütze gegen Kugeln und heile jene, denen dieser Schutz bisher gefehlt hatte. Rund vier Monate lang brachten also Mütter aus dem ganzen Umkreis ihre segelohrigen Soldatenjungs her. Sie gaben ihnen das Wasser aus Jegorkas Quelle zu trinken, bespritzten und wuschen ihre Söhne damit, spülten deren Kleider darin, nahmen einen Vorrat mit und schickten es in Baldrianfläschchen in den Süden. Der Vorsitzende nahm Geld von den Pilgern und ernährte davon die längst aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen alten Frauen und die werktätigen Trinker seines Kolchos. Doch bald kamen erste Gefallenenmeldungen, kehrten Tote und Krüppel von den Gefechten zurück - die Wunder waren ausgeblieben. Inzwischen hatte man an der Quelle eine eiserne Tonne eingegraben und einen schiefen Holzsteg gebaut, an einer Weide hing an einer Mopedkette ein Emaillebecher. Der Ort war nun zivilisiert, also schmutzig. Das Wasser war bald rostbraun und voller toter Fliegen. Es hatte den Müttern nicht geholfen, hatte ihre Söhne nicht gerettet, es hatte sie betrogen, und darum ging niemand mehr dorthin.
    Stattdessen gingen die Mütter und die Krüppel zum Vorsitzenden nach Hause. Um ihn zur Rede zu stellen, warum sie für ihre letzten Rubel nicht die Heilung, Auferstehung und Erlösung in entsprechender Qualität bekommen hatten. Doch der Vorsitzende, ein wachsamer Mann, war kurz zuvor aus dem Fenster gesprungen und versteckte sich im Stachelbeergestrüpp. Zur Befragung blieb also nur der mit ihm zusammenlebende Agronom, der vorm Fernseher sitzen geblieben war. Sie befragten ihn lange, schweigend und schwer atmend - die Mütter mit auf dem Hof erbeuteten Holzscheiten, die Krüppel mit Krücken, Prothesen und verstümmelten Gliedmaßen. Der Agronom rief um Hilfe und nach der Miliz. Die Mütter gingen, der Agronom kurierte seine Wunden, doch der Vorsitzende war so betrübt, dass er sich nicht mehr unter den Menschen blicken ließ. Er lebte nun wie ein Partisan in den Stachelbeeren, von wo aus er auch den Kolchos leitete. Der Agronom brachte ihm Brot und Milch zum Leben und Papiere zum Unterschreiben. So unterschrieb der Vorsitzende auch die Anordnung, die der Quelle ihre Wundertätigkeit und den Namen des heiligen Georg aberkannte, sowie eine weitere über die Aufnahme aktiver

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