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Nahe Null: [gangsta Fiction]

Nahe Null: [gangsta Fiction]

Titel: Nahe Null: [gangsta Fiction] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathan Dubowitzki
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Lebensnotwendigste, sparte am Montrachet und am Kokain, und an Gedichte und Prosa war erst recht nicht mehr zu denken. Die Piratenauflage von Mallarmé blieb liegen, ebenso der legale Lermontow. Die Menschen sagten immer seltener »Futures« und immer häufiger »Scheiße«. Russland ließ den Kopf hängen; vor kurzem noch beschwingt vom leichten Geld, war es nun still geworden; in sämtlichen Kirchen, Moscheen und Synagogen betete es für die Rückkehr der alten zügellos galoppierenden Ölpreise. Die Märkte leerten sich, und auch das Letzte, was Jegor nach dem Zerfall der Bruderschaft noch einen gewissen Gewinn gebracht hatte (in seiner Hand lagen neben den privaten Kunden noch zwanzig Prozent des Absatzes an japanischen Haikus in Russland, ein Zehntel der amerikanischen Beatniks und rund ein Drittel der Werke des Katers Murr), versiegte.
    Jegor, der schon lange von einem friedlichen Leben träumte, von Gewaltlosigkeit und einem erneuerten, desinfizierten und sterilisierten Schicksal, erkannte, dass jetzt der falscheste Zeitpunkt war, um auf einen unblutigen Beruf umzusteigen. Er war schon drauf und dran, auf Hausverwalter umzuschulen, als massenweise Kriminelle, die gerade erst gelernt hatten, auf Titel wie COO und CEO zu hören, die gerade erst aufgehört hatten, von ihren massakrierten Geschäftspartnern und vergifteten Konkurrenten zu träumen, die gerade erst angefangen hatten, wie Menschen zu leben, als diese Kriminellen von den zusammengebrochenen Aktienmärkten zurückkehrten zur vertrauten Kriminalität, zu ihren Wurzeln, zu Reibereien, Bandenkriegen und Schießereien. Russland griff wieder zum Totschläger, weil es begriffen hatte, dass friedliche Arbeit vergebens ist.
    Da Jegor seine gewohnten Einkünfte verloren und noch keine ungewohnten erschlossen hatte, vermietete er die Hälfte seines Hauses auf dem Dach an einen flüchtigen Schöpfer von Finanzpyramiden aus Chicago, Illinois, der mit zwei Koffern und einer Sporttasche voller Dollars vor den amerikanischen Gerichtsmarschällen geflohen war. Doch Mister Dow (so hieß der Untermieter) packte Koffer und Tasche schrecklich ungern aus und zahlte wegen dieses Widerwillens nur ungern und unregelmäßig seine Miete, und Jegor musste sich mit Raub etwas dazuverdienen.
    Aufgrund seiner bekannten Neigung zum Lesen überfiel er meist Buchläden und Bibliotheken. Doch die Ausbeute war gering. Er nahm alte Bettlergewohnheiten von vor zwanzig Jahren wieder auf, wie: Zigaretten ohne Filter rauchen; Besäufnisse mit falschem Wodka und technischem vergälltem Spiritus; Hemden zwei Tage hintereinander tragen, Sex für hundert oder gar fünfzig Dollar; Ernährung von chinesischem Büchsenfleisch und Odessaer Wurst;
    Schlaf vom Morgen bis zum Mittag; nachts, wenn er nicht in eine Bibliothek einbrach, zielloses Herumsitzen in der Küche vorm Fernseher, mit einer Hundert-Dollar-Freundin, einem plötzlich hereingeschneiten, stets angetrunkenen alten Schulfreund oder auch mit Mister Dow, der vorbeikam, um eine Scheibe Wurst vom Tisch zu klauen und/oder sich kostenlos zu betrinken.
    Ermattet, abgestumpft und äußerlich gealtert, war sich Jegor seines Abstiegs bewusst, spürte ihn aber nicht, weil er innerlich mit anderen Dingen beschäftigt war, die vielleicht nicht wichtiger waren, ihm aber doch mehr Kraft, Aufmerksamkeit und Emotionen abverlangten. Er konnte die innere Stille nicht mehr hören, seine Seele knurrte, blubberte und blähte sich wie ein Bauch, in seinem Inneren jagten einander, Herz und Gehirn niedertrampelnd, das grimmige Gute, das hungrige Böse und noch etwas, das er nicht erkennen und benennen konnte. Himmel und Hölle stritten um ihn, Engel und Dämonen rangen miteinander um eine Entscheidung.
    Aus Lunino war Jegor mit dem brennenden Verlangen zurückgekehrt, mit Mamajew abzurechnen. Doch das Verheilen der körperlichen Risse brauchte Zeit, und die Rache kühlte ab. Es kam der Gedanke an Demut, daran, aus dem Gleis des Samsara zu springen, sich vom Tod loszusagen und das ewige Leben zu erlangen. Es schien doppelt ehrenvoll, gerade jetzt, zutiefst gedemütigt, den Rachedurst zu überwinden, großmütig zu sein; nicht zu verzeihen, nein, das natürlich nicht, aber sich zumindest nicht zur Sünde herabzulassen. Wenn man auf Folter nicht mit Folter antwortet, gibt es eine Folter weniger, so dachte er. Wenn man im Existenzkampf nicht zum Tod greift, kann man sich daran gewöhnen, ohne Tod zu leben, glaubte Jegor plötzlich. Ihm wurde ruhig und hell zumute,

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