Nahe Null: [gangsta Fiction]
aber nicht für lange.
Die schützende Hülle der Gnade zerfiel in der Nacht, als er von Nastja, Plaksa und sich träumte. Nastja reichte ihm die furchteinflößenden Rechnungen vom Schweizer Psychiater. Plaksa stürzte sich mit tränennassem und verzerrtem Gesicht auf ihn. Jegor drohte sich selbst mit den schmerzenden Löchern anstelle der Finger. Aus dem Off ertönte eine Stimme: »Bist du ein Feigling? Was muss man uns noch antun? Was muss man dir antun? Dich als Gastarbeiter beschimpfen, als illegalen Migranten? Dir die Haare aus- und die Eier abreißen, auch die letzten Finger und das letzte Ohr und sie dir in die Fresse schleudern? Dir den Mercedes wegnehmen? Dir das Wechselgeld deines scheinheiligen Geredes von Demut, Verzicht auf Rache (in Wahrheit des Verzichts auf uns) in den Rachen stopfen? Ha! Vermutlich wirst du auch das erdulden, du schmählicher Dulder. Du bist keine Taube! Besinn dich! Und verfüttere die Eingeweide dieses kranken Gangstas an die Krähen auf dem Müll! Nimm Rache an Mamai, steh auf, reiß dich zusammen!«
Am nächsten Morgen begann Jegor mit der Suche nach Mamajews Höhle und vereinbarte mit einem Schießtrainer der Miliz individuelle Unterrichtsstunden. Der Zorn würgte ihn nicht mehr, er umarmte ihn, lachte freundschaftlich, eilte zuvorkommend voraus; wenn Gefahr drohte, blieb er taktvoll zurück und zögerte, wenn es nötig war, damit Jegor sich entspannte, eine Weile allein war und glaubte, richtig und vernünftig zu handeln. Doch diese Geschmeidigkeit stärkte die Wut ebenso wenig wie direkte Angriffe. Gegen sie verbündete sich das ganze Heer des Lichts, Jegor erschienen der hl. Michael und der hl. Januarius, Batman und die Kikoriki. Antonina Pawlowna und Vater Tichon redeten ihm zu, sich vom Leibhaftigen zu befreien und vom Bösen abzulassen. Das hätte Jegor auch getan, doch der Leibhaftige verspottete ihn, schickte ihm Alpträume von Nastja und Plaksa. Jegor ging an den Schießstand, feuerte auf den imaginären Mamajew, machte Anrufe und holte Erkundigungen über dessen Aufenthalt ein. Dann bereute er erneut und verfiel dem Tolstoianertum. Als knipse das schwankende Gewissen den Schalter töten/nicht töten spielerisch an und aus.
Ihm wurde mal heiß, mal kalt, aber keines von beidem richtig, sondern eigentlich nur widerlich warm; er wurde weder gut noch böse, sondern nur schwach. Er war hin und her geworfen zwischen Licht und Finsternis, zwischen dem Allgütigen und dem Leibhaftigen, doch da wie dort quälte ihn das Gewissen, peinigten ihn Alpträume, suchten ihn Gespenster und Schatten heim. Von da wie von dort floh er vor ihnen in die Mitte, versuchte, sich vor den Extremen zu verkriechen, einer Entscheidung auszuweichen, doch auch die Unentschiedenheit glückte ihm nicht, in der Mitte konnte er sich nicht halten, es trug ihn erneut mal an dieses, mal an jenes Ende.
Um von der ständigen Überanstrengung nicht zusammenzubrechen, brachte Jegor Ordnung in seinen Fieberwahn, organisierte für die gleichen Kräfte beider Pole einen regulären Krieg nach Plan. Von Montag bis Mittwoch war er auf der Jagd nach Mamajew, lernte mit drei Fingern schießen, trainierte seine Muskeln für einen möglichen Zweikampf, stellte Kerzen vor dem wundertätigen Nikolaus auf, rief den Heiligen um Hilfe an, bat auch die Gottesmutter, ihm töten zu helfen, und genoss im Voraus seine ausgiebige, schreckliche, süße Rache.
Donnerstags, freitags und samstags flehte er ebenjene Jungfrau Maria und Nikolaus an, seine Seele aus Satans Klauen zu befreien, ihm zu helfen, nach den Geboten zu leben, meditierte, besuchte Krishna-Gesänge, versorgte in einem Hospiz hässliche alte Menschen, ernährte sich nur von Müsli und hegte erhabene Gedanken an das Wohl seines geliebten Bruders, des Regisseurs Mamajew, dem er verziehen hatte. Sonntags ruhte er sich aus und hoffte, dass sich an einem solchen freien Tag der zerstörerische Seelensturm von selbst legen, sich von selbst eine Antwort finden würde, und er endlich wüsste, was er tun sollte und auf welcher Seite.
45
Die Nachforschungen hatten Erfolg, Jegor kam Mamai näher, er wusste bereits von seiner Gewohnheit, in Datschen-Siedlungen nordöstlich von Moskau abzusteigen, wobei er im Voraus über fünf Ecken engagierte Idioten losschickte, Häuser anzumieten, und zwar gleich drei für unterschiedliche Zeiträume. Manchmal kam er ohne Leibwächter, ganz unauffällig, verbrachte dort einen oder zwei Tage, sah sich um und zog zur nächsten Adresse
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