Nahkampf der Giganten
Nachthimmel.
Als hätte die See selber gesprochen, durchbrach von unten her eine Stimme die Stille:
»Hyperion
ahoi! Bitte an Bord kommen zu dürfen!«
Bolitho wandte sich um. Das war Lieutenant Inch gewesen. Gelassen befahl er: »Beidrehen, bitte! Und signalisieren Sie Mr. Inch, daß er längsseit kommen kann. Öffnen Sie die Enternetze für ihn, aber passen Sie auf, falls die anderen irgendwelche Tricks vorhaben!«
Quarme erwachte aus seiner Trance und machte eine Bewegung, als wolle er die Order automatisch ausführen, auf Grund von Disziplin und Gewohnheit. Bolithos Worte jedoch ließen ihn erstarren.
»Sie sind abgelöst, Mr. Quarme. Gehen Sie in Ihre Kajüte! Mr. Rooke, Sie übernehmen!«
Quarme stammelte: »Ich meinte doch nur…« Damit drehte er sich um und schritt zur Treppe. Die Männer machten ihm den Weg frei. Sie schämten sich für ihn, und doch konnten sie die Blicke nicht von dem Unglücklichen losreißen.
Bolitho schritt zur Achterdecksleiter und blieb dort eine Weile stehen, bis er Wut und Enttäuschung überwunden hatte und sich achselzuckend mit den Tatsachen abfand. Hätte Rooke nichts gesagt, hätte er Quarmes Insubordination ignorieren können. Hätte sich Quarme nur noch ein paar Sekunden zurückgehalten, nur so lange, bis Inch sich gemeldet hatte, so wäre nichts passiert. Aber tief im Innern wußte er: nie wieder würde er Quarme voll vertrauen können; Rookes Eingreifen spielte da gar keine Rolle. Quarme hatte Angst gehabt, und früher oder später mußte er wieder Angst haben, und dann würde diese Angst vielleicht nicht nur ihn, sondern andere das Leben kosten. Jeder Mensch hatte Angst, wenn er kein Idiot war, das wußte Bolitho genau. Aber die Angst auch zu zeigen, war unverzeihlich.
Säbelklirrend stieg Leutnant Inch die Achterdecksleiter empor und drängte sich atemlos durch die Männer, die ihm schweigend entgegenblickten. »Melde mich zurück, Sir!« Aufgeregt grinste er über sein ganzes langes Gesicht. »Wir haben den Bürgermeister von St. Clar mit an Bord.«
»Und die anderen Boote, Mr. Inch, was sollen die?« Bei dem bedeutungsschweren Ton dieser Frage wurde sich Inch der gespannten Atmosphäre bewußt. Er schluckte. »Ich habe die Wasserkähne gleich mitgebracht, Sir. Ich dachte, das spart Zeit.«
Reglos starrte Bolitho ihn an. »Spart Zeit… Hm.« Und er dachte an Quarme, der dort unten in seinem Privatgefängnis hockte. An Rooke und an all die anderen, die, zum Guten oder zum Schlechten, von ihm abhängig waren.
Unsicher nickte Inch. »Aye, Sir. Die Franzosen haben sich wirklich anständig verhalten…« Erschrocken blickte er an sich herunter, denn etwas Langes, Dunkles war ihm unter dem Rock hervorgerutscht und Bolitho vor die Füße gefallen.
»Und was ist das, Mr. Inch?« fragte Bolitho. Die Spannung hielt ihn gepackt wie ein Schraubstock. Kläglich erwiderte Inch: »Ein Laib frisches Brot, Sir.«
Aus der Dunkelheit klang hilfloses Gelächter auf. Die Midshipmen und Geschützbedienungen fielen ein, obwohl die meisten kein Wort verstanden hatten. Aber es lag Erleichterung, Verzweiflung, Dankbarkeit darin – alles zugleich.
Langsam sagte Bolitho: »Schön, Mr. Inch. Sie haben heute Nacht gute Arbeit geleistet.« Noch spürte er, wie die nervöse Spannung an seinen Worten wie an Geigensaiten zupfte. »Jetzt heben Sie Ihr Brot auf und gehen Sie an Ihren Dienst.«
Inch entfloh durch die Reihen der kichernden Matrosen, und Bolitho fuhr fort: »Klar zum Ankerwerfen, Mr. Rooke. Wie der Fünfte Offizier eben ganz richtig sagte, spart es Zeit.«
Er drehte sich auf dem Absatz um. »Weitergeben an
lieutenant
Charlois und seinen Bürgermeister: ich empfange beide in meiner Kajüte.« Erst als er unter der Kampanje unnötigerweise den Kopf einzog, fiel die gespannte Wachsamkeit von ihm ab. Jetzt konnte und würde ihn nichts mehr überraschen. Wasserübernahme in Schußweite eines feindlichen Hafens, ein Laib frisches Brot auf den Planken des Achterdecks. Und ein Offizier, der nicht im feindlichen Feuer, sondern unter dem Druck seiner Zweifel zusammengebrochen war.
Er hörte das Klappern der Blöcke und das protestierende Schlagen der Segel: schwerfällig drehte sich das Schiff in den Wind, um vor Anker zu gehen. Unten wartete Allday schon, und auf dem Tisch stand ein volles Glas Brandy.
»Was starren Sie mich an, Allday?« Ärgerlich blickte er auf sein Spiegelbild im Heckfenster. Selbst im schwachen Licht der beiden Hängelampen erkannte er, wie erschöpft, ja
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