Naios Begierde (Hüter der Elemente) (German Edition)
seinen Talisman um den Hals trug, doch dazu müsste er das Institut verlassen. Wie alle Hüter hatte er seiner Auserwählten nach ihrem sechsten Geburtstag einen Talisman gegeben, über dem er mit ihr in Kontakt stand. Er konnte fühlen, wenn sie in Gefahr war und er konnte sie aufspüren. Michelles Erinnerungen waren jedoch von den Allwissenden Mächten manipuliert worden, sodass sie das Treffen mit ihm vergessen hatte und dachte, das Schmuckstück wäre ein Geschenk von ihrem Vater. Sie wusste nicht, dass all ihre kindlichen Träume von Meerjungfrauen und einem Leben auf dem Meeresgrund dadurch entstanden waren, dass sie sich über Monate in ihren Träumen begegnet waren. Nämlich von ihrem sechsten Geburtstag an, bis zu dem Zeitpunkt, wo er ihr sechs Monate später den Anhänger mit dem Iolith überreicht hatte.
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Junge?“, riss ihn die Stimme der Sekretärin aus seinen Gedanken.
Das war schon das zweite Mal, dass man ihm heute diese Frage stellte. War es wirklich so offensichtlich, wie es um ihn stand?
„Ich bin es nur nicht gewohnt, dass mein Partner einfach so für Stunden verschwindet, ohne dass wir vorher gesprochen haben. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt tun soll? Ohne sie weiter machen, wie ich das für richtig halte? Oder soll ich hier Daumen drehen, bis sie wieder auf der Bildfläche erscheint? Ich meine, wir sind ein Team! Sie hätte mir kurz Bescheid geben können.“
„Vielleicht war sie ganz froh, ein paar Stunden hier rauszukommen?“, sagte die Sekretärin und blickte ihn forschend an. „Ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich habe so einiges im Leben gesehen und erlebt, und wenn da nicht etwas zwischen euch läuft, dann fress ich meine Schuhe.“
„Es hätte etwas laufen können“, knurrte Naios. „Aber sie war zu feige, einen Versuch zu wagen. Sie meint, dass würde unsere Zusammenarbeit gefährden. Was soll ich tun, hm? Ich kann sie wohl kaum zwingen.“
„Vielleicht braucht sie nur Zeit. Sie hat keine einfache Kindheit gehabt. Für sie ist Liebe mit Schmerz und Zurückweisung verbunden. Wie jedes Kind hat sie sich nach liebevollen Eltern gesehnt, doch ihre Pflegeeltern haben sie immer zurückgewiesen. Für sie zählte stets nur das Geld, das sie für die Pflege bekamen. Ich sage dir mein Junge. Es ist ein Wunder, dass Michelle es überhaupt so weit geschafft hat. Mit ihrem Hintergrund das Studium zu absolvieren und Karriere zu machen, muss sie viel Kraft gekostet haben. Ich erzähle dir das nur, weil ich denke, dass du gut für sie bist. Ich erkenne einen aufrichtigen Kerl, wenn ich ihn sehe. Ich habe ein Gespür für Versager und Typen, die nur auf eine schnelle Nummer aus sind. Sie bedeutet dir etwas und deswegen rate ich dir, ihr Zeit zu geben. Okay?“
Naios nickte.
„Danke für deine Offenheit. Ich bin Naios.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen und sie nahm sie entgegen.
„Sue.“
Mit einem Nicken entzog Sue ihm ihre Hand und schnappte sich das Tablett vom Schreibtisch, wo sie es abgestellt hatte.
„Ich geb dir einen Tipp. Michelle liebt ihre Arbeit. Komm ihr näher durch eure Zusammenarbeit, nicht durch Anmache oder Anfassen. Das schreckt sie eher ab.“
„Ich versuch, dran zu denken“, erwiderte Naios.
Sue nickte und verschwand aus dem Büro. Seufzend griff Naios nach einem Muffin und stopfte sich das Teil komplett in den Mund. Es sah ganz danach aus, als wenn sich die Eroberung seiner Gefährtin als viel härter erweisen würde, als er sich je hatte träumen können. Er war ein arroganter Bastard gewesen, zu glauben, er könne jede Frau im Handumdrehen für sich interessieren. Bei Michelle war dies eindeutig nicht der Fall und es kratze gewaltig an seinem Ego, auch wenn er es nicht gern zugab.
***
Michelle hatte es Spaß gemacht, den Kindern etwas über ihren Job zu erzählen. Sie hätte nicht gedacht, das zwölfjährige sich so clevere und gezielte Fragen ausdenken könnten. Besonders ein Mädchen war ihr aufgefallen. Sie hatte Michelle ein wenig an sich selbst erinnert. Das Mädchen hatte genauso viel Biss und Ehrgeiz gezeigt, wie Michelle in ihrem Alter gehabt hatte. Und genauso wie die kleine Michelle, schien das Mädchen in der Klasse einen schweren Stand zu haben. War ebenso eine Außenseiterin, wie Michelle es gewesen war. Es war nicht so, dass ihre Mitschüler Michelle geärgert hätten, doch sie hatte nie in deren Kreise hineingefunden. Meist war sie ohnehin nicht länger als ein paar Monate in einer Klasse
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