Naios Begierde (Hüter der Elemente) (German Edition)
gewesen. Zu häufig hatte sie die Pflegefamilie gewechselt. In den ersten drei Jahren hatte sie neun verschiedene Familien gehabt, danach hatte sie aufgehört, zu zählen. Nicht alle Familien waren absichtlich grausam zu ihr gewesen, doch es hatte irgendwann einfach niemand mehr zu ihr durchdringen können. Nach den ersten paar schlimmen Erfahrungen fing sie an, sich zu isolieren. Erst während ihres Studiums, wo sie auf dem Campus gelebt hatte, war sie wieder offener geworden. Dank ihrer Zimmerkollegin. Die quirlige Gina hatte Michelle sofort unter ihre Fittiche genommen. Sie war es auch gewesen, die sie mit Brian bekannt gemacht hatte. Michelle fragte sich, was Gina von Naios halten würde. Andererseits war es ohnehin ohne Belang, da der Mistkerl sie ja gar nicht wollte.
Gedankenverloren öffnete Michelle ihre Autotür und stieg ein. Der Himmel hatte sich verdunkelt und es sah nach einem ziemlichen Unwetter aus. Michelle nahm kaum Notiz davon. Sie war in Gedanken schon bei dem unausweichlichen Zusammentreffen mit Naios. Für ein paar Stunden hatte sie es hinauszögern können, doch wenn sie jetzt zurückkehrte, dann war ihre Schonzeit vorbei. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen startete sie den Wagen und lenkte ihn vom Besucherparkplatz der Schule auf die Straße.
***
Naios hatte sich die Zeit damit vertrieben, die Untersuchungsergebnisse des Drillon zu sortieren und die Daten in den Computer einzugeben. Dann hatte er sein Lunch mit Tim und Danton in der kleinen Kantine des Institutes eingenommen und war nun zurück an seinen Arbeitsplatz gekehrt. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz vor ein Uhr war und er hoffte, dass Michelle bald zurückkommen würde. Er hatte sich dazu entschlossen, mit ihr zu reden. Er wollte wissen, ob sie ihm eine Chance einräumen würde, wenn er versprach, die Hände bei sich zu behalten. Was ihm natürlich schwerfallen würde, wenn sie sich ihm wieder an den Hals schmiss. Das war auch, was er an dem Ganzen am wenigsten verstehen konnte. Wieso hatte sie ihn gebeten, sie zu küssen und hatte so verdammt leidenschaftlich auf ihn reagiert und ihn dann hinterher so abserviert? Mussten Frauen immer so verdammt kompliziert sein?
Langsam wurde er nervös. Es war schon Viertel nach eins und seine Geduld lag irgendwo bei null. Um sich etwas abzulenken, ging er in die Halle zu dem Drillon und setzte sich an den Rand des Beckens. Lorof, so hieß der Drillon in Wirklichkeit, kam zu ihm geschwommen.
„Hey mein Freund. Wie geht es dir da drin?“
Lorof gab Laute von sich, die für das menschliche Ohr nichts anderes wahren, als knurrende und zischende Töne, doch Naios verstand seine Sprache, wie alle Aquanier.
Läuft nicht gut bei dir?
Naios schüttelte den Kopf.
„Nicht so besonders.“
Aber ihr habt euch geküsst. Ich habe gesehen, wie sie sich dir an den Hals geworfen hat. Für mich sah das ziemlich überzeugend aus.
„Ja das habe ich auch gedacht, aber sie hat einen Rückzieher gemacht und im Moment will sie nicht einmal mit mir reden.“
Soweit ich gehört habe, ist es immer schwierig mit den Auserwählten. Hat irgendwas damit zu tun, dass der Hüter sich ihre Liebe erst verdienen muss.
„So ähnlich hat sich mein Vater auch ausgedrückt. Trotzdem wäre ich froh, wenn ich das schon hinter mir hätte und ich sie nach Aquanien in Sicherheit bringen kann.“
Kein Kampfgeist, mein Freund?
„Das ist nicht das Problem. Ich mache mir nur Sorgen wegen der Dunklen Mächte. Solange wir nicht zusammen sind, haben sie viel größere Chancen, an sie dranzukommen. Wenn wir die Zeremonie endlich hinter uns haben, dann weiß ich, dass sie in Sicherheit ist. Ich würde sie am liebsten vierundzwanzig Stunden überwachen aber im Moment lässt sie mich ja nicht einmal in ihre Nähe.“
Verstehe.
Plötzlich verspürte Naios einen großen Schmerz in seinem Kopf und schließlich in seinem ganzen Oberkörper. Panik erfasste ihn, denn er wusste nur zu gut, was dies zu bedeuten hatte. Etwas Schreckliches war passiert. Was er verspürte hatte, waren nicht seine, sondern Michelles Schmerzen.
„Bei allem, was heilig ist!“, stieß er aus und sprang auf die Füße.
Was ist los?
„Michelle. Ich muss sofort zu ihr. Etwas ist passiert. Ein Unfall oder so.“
Geh schnell, Freund. Ich bete für dich und deine Auserwählte.
„Danke“, murmelte Naios und rannte aus der Halle ohne sich noch einmal umzudrehen.
Im Flur stieß er auf Tim, der gerade aus dem Labor trat.
„Ich muss weg!“, rief
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