Naked - Hemmungslose Spiele (German Edition)
Wort, und selbst während der englischen Lesungen, bei denen die Bedeutung des Feiertags erklärt wurde, schwiegsie verbissen. Ein rascher Seitenblick verriet mir, dass sie sehr wohl die Zeilen mit den Augen verfolgte. Ihre fest zusammengepressten Lippen deuteten aber unmissverständlich darauf hin, dass sie auf keinen Fall laut mitsprechen wollte.
Ich bin es eigentlich gewohnt, mich in Gruppen immer irgendwie fehl am Platz zu fühlen. Zu Hause und in der Schule hatte meine Hautfarbe mich immer von allen anderen unterschieden. Auch wenn ich einbezogen wurde, war ich anders als die anderen. Aber hier war ich nicht die einzige Nichtjüdin, nicht die einzige Nichtweiße und nicht mal die Einzige, die nicht zur Familie gehörte.
Hier hatte ich das Gefühl, dazuzugehören.
„Olivia?“
Ich hatte irgendwas verpasst, während ich meine Gedanken abschweifen ließ. „Wie bitte?“
Dan hielt seine Haggada hoch. „Möchtest du gerne den nächsten Abschnitt lesen?“
„Klar.“ Ich fand die Stelle, die er meinte, und las laut die Passage über Moses, der sein Volk aus Ägypten führte und wie sie unterwegs verfolgt wurden. Wie sie einst Sklaven gewesen waren.
Anders als die anderen.
Die letzten Sätze stotterte ich, weil ich von meinen Gefühlen übermannt wurde. Mrs Kavanagh warf mir einen neugierigen Blick zu, sagte aber nichts. Dann begann ein Lied. Dan klopfte auf den Tisch und führte den Chor an, sodass selbst diejenigen von uns, die mit den hebräischen Worten nicht vertraut waren, mitsingen konnten. „Dayenu.“ Es hätte genug sein sollen. Das Lied wurde immer schneller, bis nur noch Dan mithalten konnte und alle anderen außer Atem waren. Wir endeten mit einem begeisterten Schrei und viel Gelächter.
„Du warst immer schon so gut darin“, sagte Dotty stolz. „Sammy und du, ihr wart beide so gut. Wie schade, dass dein Bruder heute Abend nicht hier sein kann.“Dans breites Grinsen wirkte etwas gequält. „Ja. Zu schade.“
Der Moment der Spannung zwischen den beiden war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Ich hatte mich derweil noch immer nicht von meiner Erleuchtung eben beim Lesen erholt. Ich hob mein Glas zusammen mit den anderen, aß das hart gekochte Ei und die in Salzwasser getauchte Petersilie und folgte den weiteren Schritten des Seder, bis es an der Zeit war, das Festmahl zu servieren. Dann entschuldigte ich mich und ging ins Bad, um meine aufgewühlte Psyche wieder in den Griff zu kriegen.
Ich ließ kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen und betupfte meine Stirn damit. Dann erst schaute ich mich im Spiegel an. Was war ich? Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich davon zumindest eine Ahnung zu haben.
Ich schaute auf dem Rückweg in der Küche vorbei, weil ich meine Hilfe anbieten wollte. Elle, die sich die Haare hochgesteckt hatte, beugte sich nach unten und spähte in den Ofen. Sie pikste in eine der Kartoffeln, die sie in einer Auflaufform buk, und machte leise: „Ts, ts, ts.“
„Kann ich helfen?“
Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Meine Mutter würde jetzt sagen, sie hätte gleich gesagt, dass ich die Kartoffeln eine Stunde früher in den Ofen schieben sollte. Und natürlich hat sie recht. Ach was, ich dreh einfach den Ofen noch ein bisschen auf, dann sind sie in zehn Minuten fertig. Wir können derweil genug andere Sachen essen. Ist schon in Ordnung.“
„Versuchst du mich zu überzeugen? Oder dich?“
Sie lachte. „Mich. Freut mich wirklich sehr, dass du heute Abend kommen konntest, Olivia. Gefällt’s dir?“
„Ja, sehr. Danke für die Einladung.“
Sie schien für Small Talk nicht besonders viel übrig zu haben, was zu einem unbehaglichen Schweigen führte. Ich suchte verzweifelt nach einem passenden Gesprächsthema, damit wir nicht einfach nur ins Leere starrten. Elle schien das nichtsauszumachen. Sie nahm eine Schüssel mit etwas, das wie Guacamole aussah, aus dem Kühlschrank und hielt sie mir hin.
„Du könntest das schon mal ins Esszimmer bringen, während ich mit diesen Kartoffeln kämpfe.“
Ich nahm die schwere Glasschüssel entgegen. „Klar.“
Sie neigte den Kopf zur Seite und sah mich nachdenklich an. „Es ist eine bewegende Geschichte, nicht wahr?“
„Bin ich so leicht zu durchschauen?“
Sie schüttelte den Kopf und stellte die Temperatur am Ofen noch etwas höher. Dann lehnte sie sich gegen die Arbeitsplatte. „Nein, bist du nicht. Ich erinnere mich nur selbst noch sehr gut daran, wie verloren und überwältigt ich
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