Namibische Nächte (German Edition)
Steffen war noch nicht da. Er war ein Langschläfer. Glücklicherweise.
Das Abendessen gestern war nicht wirklich ein Vergnügen gewesen. Er hatte sie ständig bedrängt, versucht, sie dazu zu überreden, bei ihm in der Hütte zu übernachten oder ihn mit in ihre Hütte zu nehmen.
Sie hatte kaum essen können, weil sie ihn ständig abwehren musste. Warum verstanden Männer nie, dass sie das nicht gerade attraktiver machte?
Verglichen mit Kian erschien ihr Steffen jetzt ohnehin nicht mehr attraktiv, aber mit seinem Verhalten verspielte er auch noch seine letzten Chancen.
Nun ja. Sie gab zu, dass er im Prinzip keine mehr hatte. Sie wusste schon gar nicht mehr, was sie in Deutschland in ihm hatte sehen wollen. Hier in Namibia erschien er nur lächerlich. Mit seiner Strandhose und seiner selbstmitleidigen Art. In Frankfurt hatte er ein Leben gehabt, das ihn beschäftigte – wie oft hatte sie sich seine Gerichtsgeschichten angehört, auch wenn sie sie gar nicht interessierten –, aber hier hatte er nichts, kannte er nichts außer Vanessa und hängte sich an sie wie eine Klette. Das, was sie immer so an ihm geschätzt hatte, nämlich dass er keine Ansprüche an sie stellte, schien vollkommen verschwunden. Hier war er der personifizierte Anspruch.
Er musste ihr nachgekommen sein, weil er eifersüchtig war. Das hätte sie ihm nie zugetraut. Ihre Beziehung war immer eine recht offene gewesen. Sie hatte viel zu viel Arbeit gehabt, um sich Gedanken darüber zu machen, ob er sich auch noch mit anderen Frauen traf. Obwohl sie wohl selbstverständlich angenommen hatte, dass er es nicht tat, weil sie selbst es ebenfalls nicht tat. Das alles hatte jedoch nicht mehr die geringste Bedeutung. Ihr Leben in Deutschland erschien ihr so weit entfernt, als ob sie nie dort gewesen wäre. Und doch musste sie dahin zurück.
Sie legte den Löffel neben ihre Müslischale und schaute um sich. Was war das nur mit diesem Land? War es der ständig blaue Himmel, der fehlende Regen, die Weite, die den Blick in die Unendlichkeit zuließ? Namibia hatte etwas an sich, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Das sie nicht beschreiben konnte. Und doch drang es in sie ein und erfüllte sie mit einer Sehnsucht, die ihr geradezu Angst machte.
Auch wenn sie nichts gehört hatte, spürte sie auf einmal, dass jemand gekommen war. Sie blickte um sich. Tuhafeni stand ein Stück entfernt und schaute sie an.
»Tuhafeni.« Vanessa lächelte. »Was machst du denn hier?«
»Bist du böse?«, fragte Tuhafeni.
Vanessa schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich böse sein?«
Tuhafeni kam langsam näher, sprach aber nicht.
»Was ist los?« Vanessa hatte das Gefühl, Tuhafeni wollte etwas. »Ist etwas passiert? Mit deiner Großmutter?«
Tuhafeni schüttelte sehr langsam den Kopf, es war nur wie eine wiegende Bewegung von links nach rechts und zurück. Sie blieb stumm.
»Möchtest du etwas essen?« Vanessa wies auf ihr Müsli. »Oder etwas anderes? Eine Banane?« Sie stand auf, ging zum Buffet, holte eine und hielt sie Tuhafeni hin.
Tuhafeni nahm sie, behielt sie aber nur in der Hand. Sie machte keine Anstalten, sie zu essen.
Vanessa hockte sich vor sie hin. »Weißt du«, sagte sie, »ich habe keine Kinder. Im bin nicht gut im Gedankenlesen.«
Plötzlich warf Tuhafeni ihr die Arme um den Hals und drückte sich an sie. Ihr kleiner Körper zitterte.
Vanessa bekam einen Schreck. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte, dann nahm sie Tuhafeni in die Arme und streichelte beruhigend ihren Rücken. »Was ist denn nur passiert?«, fragte sie leise. »Du bist ja ganz aufgelöst.«
Tuhafeni murmelte etwas in einer unverständlichen Sprache.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Vanessa sanft. »Du musst Deutsch oder Englisch sprechen.«
»Die Lehrerin . . .«, schluchzte Tuhafeni. »Sie hat mich weggeschickt.«
»Sie hat dich weggeschickt? Aus der Schule?« Vanessa legte den Kopf zurück und sah Tuhafeni an.
Tuhafeni nickte.
»Hast du etwas angestellt?«
Tuhafeni legte den Kopf zur Seite. »Meine Mutter war krank«, antwortete sie.
»Aber jetzt ist sie wieder gesund?«, fragte Vanessa.
»Großmutter sagt, sie ist bei den Ahnen. Sie lebt bei den Geistern im Baum.«
Das sagte Vanessa nicht viel, aber sie vermutete, dass Tuhafenis Mutter tot war.
»Sie ist gestorben?«, fragte sie.
»Die Geister haben sie zu sich geholt«, antwortete Tuhafeni.
Ja, das hörte sich an, als wäre sie gestorben.
»Und deshalb hat deine Lehrerin dich weggeschickt?«,
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