Nanking Road
Schatten am Fenster vorbei, mal von links, mal von rechts. »Sie Glückliche haben schon Schiffskarten«, murmelte die Frau neben Mamu auf der Bank.
Wir mussten froh sein, dass man uns die Wartezeit im Inneren des geheizten Bahnhofs überbrücken ließ. Beim Halt in Innsbruck hatten uns nur die vertrauten »Für Juden verboten«-Schilder an Bänken, Wartehäuschen und Toiletten empfangen – blitzsaubere, neue Schilder, weil die österreichischen Juden von all den Platzverweisen erst seit dem letzten Frühjahr betroffen waren.
Und in Innsbruck, das hatten Mischa und ich aus dem Fenster beobachtet, waren nicht nur gut gelaunte Skifahrer auf dem Weg in die Alpen zugestiegen. Auch Leute mit schweren Koffern und gesenktem Blick waren dabei gewesen, aber erst jetzt, am Brenner, erkannte ich, wie viele wir waren. Nur die, die weiter vorn in der Zollschlange gestanden hatten, hatten es zurück in den Expresszug geschafft; übrig blieb ein zusammengewürfeltes Häuflein aus uns beiden Familien, mehreren einzelnen Männern, die wie mein Vater und Herr Konitzer ihre Hüte tief ins Gesicht drückten, und zwei allein reisenden Frauen.
Dafür, dass wir so viele waren, war es ungewöhnlich still. Die Bahnhofsmitarbeiter beachteten uns nicht, aber allein ihre Anwesenheit genügte, um sich unsichtbar machen zu wollen. Es dauerte lange, bis die Ersten Mut fassten und sich gedämpft zu unterhalten begannen. Die ältere Frau, die uns angesprochen hatte, war allein in Innsbruck zugestiegen.
»Mein Sohn ist schon in Shanghai«, antwortete sie auf Mamus leise Frage in ihrem weichen österreichischen Dialekt. »Er hat Geld für mich nach Genua überwiesen, aber ob eine Passage zu bekommen ist, ist noch völlig offen.«
»Wie in aller Welt«, fragte Mamu und beugte sich vor, »haben Sie es geschafft, ohne vorab gekaufte Schiffspassage nach Italien reisen zu dürfen?«
Aber die Frau war zu vorsichtig, diese Frage zu beantworten, und erwiderte nur: »Ich muss jeden Tag die Reisebüros abklappern. Manchmal werden bei der Überfahrt aus Bremen oder Hamburg noch ganz kurzfristig Kabinen frei wegen …«
Sie stockte, warf einen Blick auf mich und ich sah ihre Lippen das Wort Selbstmord formen.
»Frag Papa, ob er eine Stulle möchte, Ziskele«, trug Mamu mir sofort auf.
Wie immer schickte sie mich außer Hörweite, sobald ein Thema heikel wurde. Aber an diesem Morgen hatte ich ausnahmsweise nichts dagegen, im Gegenteil, ich war regelrecht erleichtert, endlich in Papas Richtung geschickt zu werden. In der langen Stille, die sich über uns gebreitet hatte, nachdem wir am Brennerbahnhof gestrandet waren, hatten sich unaufhaltsam und vorwurfsvoll unsere letzten Augenblicke in Berlin in meine Erinnerung zurück zu nagen begonnen, und was ich mir gern eingebildet hätte, nicht gesehen zu haben, wurde von Minute zu Minute klarer.
Onkel Erik, der fremde Mann, die Hand. Zu wem hatte sie gehört? Würden wir es überhaupt je erfahren? Im Niemandsland zwischen den Nazis und dem rettenden Ozean wurde mir auf einmal bewusst, wie weit wir uns schon von zu Hause entfernt hatten.
Ein Schwall kalter Luft erfasste mich, als ich ins Freie trat. Schnee wehte über die Bahnsteige, fein wie Sand.
Nach ein paar Minuten blieb Papa stehen, drehte sich um und sagte gereizt: »Kannst du bitte aufhören, mir auf Schritt und Tritt zu folgen, Ziska? Ich gehe nirgendwo hin, ich habe auch nicht die Absicht, mich wieder verhaften zu lassen, ich möchte mir nach den vielen Stunden im Zug bloß ein wenig die Beine vertreten!«
»Ich dachte, vielleicht könnten wir mal kurz in Berlin anrufen«, schlug ich kleinlaut vor.
»Bekka hat doch gar kein Telefon.«
»Doch nicht Bekka – Herr Todorovski! Herr Todorovski soll bei Tante Ruth vorbeigehen und sich für uns verabschieden, wo wir doch Onkel Erik nicht mehr gesehen haben.«
Ich war stolz, dass mir Herr Todorovski einfiel, ein Bekannter meiner Eltern, der wie Papa verhaftet, aber einige Tage später freigelassen worden war. Todorovskis gehörten zu den wenigen, von denen ich wusste, dass sie ein Telefon besaßen.
»Liebes Ziskele, Onkel Erik nimmt uns das überhaupt nicht übel!«, beruhigte mich Papa. »Er hat bestimmt gesehen, wie wir kontrolliert wurden, und war klug genug, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.«
Ich fühlte meine Arme rechts und links von mir herabhängen. »Kann Herr Todorovski nicht trotzdem …? Vielleicht wollte Onkel Erik uns ja noch etwas sagen …«
Papa legte mir beide Hände
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