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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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von der anderen Seite des Zuges rollte eine neue heran.
    Genau so stellte ich mir Kino vor: Man starrt auf die Leinwand und mag den Helden noch so laut warnen, die Handlung nimmt unaufhaltsam ihren Lauf. Nicht dass ich je ein Kino hatte besuchen dürfen (für Juden verboten), aber Mamu hatte mir oft genug erzählt, wie es früher gewesen war.
    Ich blickte hinter mich. Mein Vater legte den Hörer zurück auf die Gabel, Wechselgeld klimperte, er warf es zurück in den Schlitz. »Franz …!«, hörte ich Mamu flehen. »Der Zug!«
    »Sie rangieren noch!«, schrie ich.
    Während Papa mit zitternden Fingern die nächste Nummer wählte, riss Mamu sich von der offenen Tür des Fernsprechhäuschens los, um davor auf und ab zu laufen, beide Hände in den Haaren vergraben. Ich wusste, wie viele Sekunden eine Minute hatte, aber dauerten sie immer gleich lang …?
    Dass sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete, erkannte ich an dem Ruck, der Papas Körper bis in die Spitzen seines langen Mantels durchfuhr.
    »Ernst! Hier ist Franz, hör mir zu!«
    Auch die Zollbeamten hörten jetzt gespannt zu, der Fahrkartenverkäufer und das Fräulein am Zeitungsstand, aber Papa warf jegliche Vorsicht über Bord. »Fahr zu Ruth, meiner Schwägerin, in die Silbersteinstraße. Frag, ob ihr Mann sich gemeldet hat. Ziska hat etwas beobachtet. Bitte kümmere dich darum! Ich rufe morgen von Genua aus wieder an!«
    Er legte auf, schwer atmend. Münzen ratterten in die Geldschublade, als gingen Teile des Felsens auf das Bahnhofsdach nieder. Meine Eltern rannten durch die Halle, ergriffen ihre Koffer und stürzten durch die Tür, die ich bereits weit aufhielt. Von Anfeuerungsrufen aus offenen Zugfenstern begleitet, hetzten wir quer über die Gleise und stolperten das Trittbrett hinauf, nur Sekunden bevor der Bahnhofsvorsteher das Signal zur Abfahrt gab.
    Ruckelnd setzte sich der Zug in Bewegung. Meine Knie gaben nach, ich fiel über meinen Koffer und landete bäuchlings in einer Schneepfütze mitten im Gang.
    »Bitteschön, die Herrschaften, bei uns ist noch viel Platz!«, trompetete Herr Konitzer.
    Auf der Fahrt nach Genua bekam ich einen kleinen Eindruck davon, was es heißt, berühmt zu sein: Es gab nur wenige unter unseren jüdischen Mitpassagieren, die nicht zu uns kamen, um sich zu erkundigen, was passiert sei; wenige, die nicht sofort eine Meinung dazu gehabt hätten. So eingeschüchtert die Reisegesellschaft eben noch gewesen war, so lebhaft ging es zu, nachdem wir Österreich hinter uns gelassen hatten und uns auf italienischem Boden befanden. Die Leute standen im schmalen Gang des Nahverkehrszugs oder drängten sich auf den Sitzen vor und neben uns; auf Fremde mussten wir wie eine geschlossene Reisegruppe wirken, denn Italiener warfen, wenn sie an einer der vielen Zwischenstationen zustiegen, nur einen einzigen Blick auf uns und suchten sich Plätze in einem anderen Waggon.
    Derweil fühlte ich mich so hin- und hergerissen, wie ich es von mir gewohnt war: halb angesteckt von der allgegenwärtigen Erleichterung, den Nazis entronnen zu sein, und gleichzeitig geplagt von der kleinen Stimme tief in mir, die nicht aufhörte zu flüstern, dass die Hand des Fü vielleicht noch ein Stück über die Grenze tastete. Schwankend zwischen dem Bedürfnis, mich zu freuen, und den umso größeren Gewissensbissen wegen Onkel Erik. Dankbar über jeden Einzelnen, der meine Eltern in ein Gespräch verwickelte (vielleicht vergaßen sie darüber die Aufregung am Bahnhof, und dass ich dafür verantwortlich war!), und bedrängt von dem Wunsch, eine Tür hinter uns zu schließen und Papa und Mamu endlich zu fragen, wie nun unser Plan lautete.
    Denn dass es keinen gab, war undenkbar, obwohl die meisten Mitreisenden sich schon damit abfanden, dass wir zu weit weg waren, um etwas zu unternehmen.
    »Das Einzige, was Sie tun können, ist Ihren Angehörigen mitzuteilen, was passiert ist. So haben die Armen wenigstens Gewissheit …« Der Zug schlängelte sich zwischen schneebedeckten Bergen hindurch, wir sahen kleine Ortschaften und einzelne Gehöfte, die sich an die Hänge schmiegten. Ziegen, das Maul in dampfende Atemwölkchen gehüllt, grasten nahe der Gleise. Wir überquerten Bäche, die in der Mitte silbrig sprudelten und an den Rändern zu bizarren Gebilden gefroren.
    Hätte Bekka, die mich beneidete, schon einen Grund gefunden, sich zu freuen? Im Schutz meines dichten Ponys beobachtete ich meine Eltern – erfahrungsgemäß oft die einzige Möglichkeit, etwas

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