Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
auf die Schultern. »Meine große Tochter«, sagte er und ich sah beklommen, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. »Ich weiß, es ist schwer zu begreifen, dass wir sie alle zurückgelassen haben, aber dennoch müssen wir uns damit abfinden. Es gibt jetzt keinen Weg zurück, und das vielleicht für sehr, sehr lange Zeit.«
    »Ich dachte ja nur, weil man am Bahnhof doch bestimmt telefonieren …«
    »Von unseren dreißig lumpigen Reichsmark«, explodierte Papa ohne jede Vorwarnung, »werde ich den Teufel tun und telefonieren! Kannst du mich bitte endlich in Ruhe lassen? Geh wieder hinein, los!«
    Unsanft schob er mich Richtung Wartehalle. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Papa mich je angeherrscht, geschweige denn geschubst hatte.
    »Aber Onkel Erik ist vielleicht verhaftet!«, brach es aus mir heraus.
    »Was soll das heißen?«, fragte Papa ärgerlich.
    »Er stand am Bahnsteig gegenüber und jemand hielt ihn fest … jedenfalls sah es so aus«, stammelte ich.
    Mein Vater ließ mich stehen und lief mit großen Schritten auf den Bahnhof zu. Ich blieb zurück, vom Donner gerührt. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht, dass Papa loslief, ohne zu fragen – oder auch nur für einen Augenblick infrage zu stellen , was ich beobachtet hatte!
    Angst schoss in mir hoch – Angst, ich könne zu lange geschwiegen, Angst, ich könne mich geirrt haben. Nicht dass ich wollte , dass Onkel Erik verhaftet worden war, aber falscher Alarm gehörte zu den Dingen, die ich lieber nicht auslöste!
    Mit weichen Knien schob ich mich zurück in die Wartehalle. Meine Eltern drängten sich bereits vor dem Schalter, um Telefongeld zu wechseln; durch das kleine Loch in der Glasscheibe, hinter der sich der Fahrkartenverkäufer verschanzt hatte, redeten sie eindringlich und gedämpft und mussten sich dabei tief zu dem Mann hinunterbeugen.
    Kleinlaut setzte ich mich auf meinen Koffer. Wie immer man es drehte oder wendete: Dass ich am Ende verantwortlich gemacht werden würde, schien unausweichlich, und das wahrscheinlich sogar zu Recht.
    »Ihr hättet aus dem Zug heraus doch gar nichts unternehmen können«, tröstete Frau Konitzer, die wohl ahnte, wie mir zumute war.
    »Aber ein bisschen eher hätte sie schon etwas sagen können, mein Lieb«, erwiderte ihr Mann und musterte mich mit einer Miene, aus der Vorwurf, ja Enttäuschung sprachen. »Seit über einer Stunde sitzen wir hier, unser Zug kann jeden Augenblick eintreffen, und was dann?«
    Mein Mund wurde trocken. An den Zug hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Mamu und Papa liefen hektisch quer durch die Halle zum Fernsprechhäuschen. Drei Leute standen dort bereits zum Telefonieren an.
    »Du hättest«, bohrte Herr Konitzer liebenswürdig, »dich in der Zwischenzeit natürlich auch schon in die Warteschlange stellen können.«
    Hätte Mischas Vater im Zug nicht bereits erwähnt, dass er Zahnarzt von Beruf war – ich wäre spätestens jetzt von selbst darauf gekommen.
    Nach einer kribbelnden Ewigkeit kamen meine Eltern endlich an die Reihe und mit zitternder Hand warf Papa Geld in den Automatenschlitz. Der Fahrkartenverkäufer schien sich von besonders vielen kleinen Münzen getrennt zu haben. Und ich hätte darauf wetten können: Kaum hatte mein Vater die zweite Ziffer auf der Wählscheibe gedreht, kündigte ein fröhlicher Pfiff das Herannahen unseres Zuges an.
    Der Pfiff durchfuhr mich vom Ohr bis zum Knie. Um mich herum entstand ein kleiner Tumult, als alle anderen Passagiere außer mir hastig aufstanden, ihr Gepäck zusammenrafften und ziemlich ungestüm durch die Tür drängten.
    »Bestimmt wechseln sie wieder die Lok«, rief Mischa mir ermutigend zu, bevor er inmitten von Mänteln, Rücken und schubsenden Armen verschwand.
    Leise Hoffnung keimte in mir auf, ich eilte zur Tür und blickte, einen Fuß drinnen, den anderen draußen, auf den Bahnsteig hinaus. Der Zug hielt an der Brennerstation und fuhr zurück in die Gegenrichtung; es wurde also tatsächlich eine andere Lok vorgefahren! In der Zwischenzeit schien Papa Herrn Todorovski nicht erreicht zu haben; aufgeregt suchte meine Mutter in ihrer Handtasche nach dem Notizbuch, um es bei anderen Bekannten zu versuchen.
    Der Bahnsteig leerte sich unterdessen ebenso schnell wie die Halle; ich sah die Leute, die eben noch mit uns gewartet hatten, einen nach dem anderen in den Zug klettern. Ich sah ein Fenster aufgehen und Familie Konitzer in unsere Richtung gestikulieren. Die alte Lok wurde weggefahren,

Weitere Kostenlose Bücher