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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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aus ihnen herauszubekommen. Papa war keine Hilfe, er saß in sich zusammengesunken, den Hut in die Stirn gedrückt, der Einsatz für Onkel Erik hatte ihm den letzten Rest von Kraft abgepresst. Wie so oft in den letzten Jahren erschien mir meine Mutter umso stärker und schöner, je trauriger mein Vater wurde. Mamu hatte sich kurz entschuldigt und kam gekämmt und mit nachgezogenem Lippenstift zurück; aufrecht und lebhaft saß sie zwischen den Mitreisenden und tauschte die schauderhaften Erfahrungen der letzten Wochen mit ihnen aus.
    »Sie haben uns ausgeraubt und geschlagen, und nun jagen sie uns aus dem Land, ja, sie kosten es aus bis zur letzten Sekunde, damit wir es nur nicht vergessen!«
    Gebannt hingen die Männer an ihren Lippen, folgten den Bewegungen ihrer temperamentvollen Hände, die jedes ihrer Worte unterstrichen. Es war sehr beruhigend, Mamu zu beobachten. Kaum über die Grenze, verwandelte sie sich zurück in die energische, selbstsichere Person, die sie vor Papas Verhaftung gewesen war. Die sich nicht versteckte, kein Blatt vor den Mund nahm. Mamu zu beobachten war die Antwort auf meine Frage, ob wir schon sicherer waren, und trotz der Sorge um Onkel Erik spürte ich, wie mir leichter ums Herz wurde.
    Während er mit meiner Mutter diskutierte, hatte Herr Konitzer seine eigene blasse Frau an der Schulter hängen. Ab und zu sackte ihr Kopf vornüber und er fasste ihn beim Kinn und bog ihn sacht wieder zurück. Frau Konitzer erinnerte an eine Blume im Balkonkasten, die zu wenig Wasser bekommen hat.
    Mischa hatte ein Englischbuch dabei und paukte Vokabeln. Vokabeln, im Zug nach Genua! Ich konnte nur hoffen, dass noch andere Kinder in unserem Alter auf dem Schiff mitfuhren.
    Unsere Mitpassagiere schienen von ihren Reisebüros dieselbe Liste preiswerter, judenfreundlicher Unterkünfte erhalten zu haben wie wir, und nachdem wir am Abend endlich in Genua eingetroffen waren, löste sich unsere Gruppe so plötzlich auf, wie sie im Zug vorübergehend zusammengefunden hatte. Ohne große Worte war jeder nur noch damit beschäftigt, so schnell wie möglich ein bezahlbares Bett zu ergattern, bevor ihm ein anderer womöglich zuvorkam. Selbst Konitzers, die ich fast schon als Teil unseres Gepäcks zu betrachten begonnen hatte, strebten kurz hinter dem Bahnhof in eine andere Richtung – was Mamu in größte Konflikte stürzte, denn sie traute Herrn Konitzer ohne Weiteres zu, die besten Adressen zu kennen.
    Aufdrängen wollten wir uns jedoch auf keinen Fall, und nach kurzem Hin und Her beschlossen meine Eltern, allein unser Glück zu versuchen, obwohl es bereits dunkel war und wir weder einen Stadtplan besaßen noch einen anderen Anhaltspunkt außer einem Stück Papier mit den Namen unbekannter Straßen und Hotels. Uns blieb nichts anderes übrig, als vor jedem neuen Straßenschild unsere Liste ins Licht einer Laterne zu halten, um nachzusehen, ob die Straße darauf stand.
    Die Luft am Mittelmeer war schwer, fast greifbar, wie unter einer dicken Decke, wenn man lange geheult hat. Das Kopfsteinpflaster glänzte, obwohl es gar nicht regnete, und unter dem Wintermantel klebte mir der Pullover am Leib, während wir mit unserem Gepäck enge und steile Gassen hinauf- und hinabkeuchten. Dicht an dicht standen schmale, verwitterte Häuser, hinter den geschlossenen Holzfensterläden ahnte man Licht. In Hinterhöfen stritten Katzen- und Frauenstimmen.
    Nach einer Weile begann ich im Labyrinth verwinkelter Gassen einzelne Häuser wiederzuerkennen, was aber kein Grund zur Freude war, denn es bedeutete, dass wir im Kreis liefen. Niemand war da, den man hätte fragen können. Begegnete uns überhaupt jemand, dann handelte es sich um Italiener, die uns entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, oder um Mitglieder unserer eigenen Reisegruppe, die in keiner besseren Lage waren als wir. Man konnte allenfalls die Listen vergleichen und einander mitteilen, welche Pension oder Privatadresse der andere gar nicht erst anzusteuern brauchte.
    Ganz Genua war voller gestrandeter Juden, die auf Schiffe warteten. Wo immer wir klingelten oder klopften, erhielten wir die Auskunft: Tutto occupato, alles besetzt.
    Mein Koffer wurde schwer und schwerer, während Papa einen Namen nach dem anderen auf der Liste durchstrich. Langsam, aber sicher näherten wir uns der Adresse, die ganz unten stand, der Adresse, die Mamu unter keinen Umständen anzusteuern bereit war.
    »Wenn alle Stricke reißen …«, sagte Papa gedehnt.
    »Bis du verrückt?

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