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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Ich gehe doch nicht mit meinem Kind in ein Obdachlosenasyl!«
    Allmählich bekam ich größte Lust zu heulen, aber mich weinerlich an Papa zu drängen hatte nur zur Folge, dass die Laternen unseren Schatten als einen einzigen, unheimlichen, zuckenden Klumpen vor uns aufs Pflaster warfen. Der Wolf wetzte sich voll Vorfreude die Krallen, obwohl ich die Augen noch nicht einmal geschlossen hatte.
    Als wir endlich in eine belebtere Gegend kamen, wurde es nicht besser, denn es handelte sich, wie Mamu schaudernd flüsterte, um Spelunken . Dies musste ein mir bis dato unbekanntes Wort für eine besonders ärmliche Gegend sein, denn die Frauen, die in kleinen Gruppen vor den Häusern herumstanden, uns auf Italienisch etwas zuriefen und in krächzendes Gelächter ausbrachen, trugen unter ihren dünnen Bademänteln nichts als Unterwäsche. Ein strenger Geruch nach Salz und Fisch lag über den Spelunken, und als wir, spöttische Rufe der Frauen im Rücken, der Straße um eine weitere Ecke folgten, stellten wir auch fest, warum: Vor uns lag der Hafen, das Meer!
    Wir stellten unsere Koffer ab. Hinter Fässern und Fischreusen erhoben Schiffskörper ihre Schatten, der leise, warme Wind brachte Masten zum Singen und ließ kleine Wellen mit der Hafenmauer flüstern. Ein Leuchtturm blitzte Signale in die Nacht und wie an einer Perlenschnur zogen sich funkelnde Lichter die Küste entlang, spiegelten sich im Wasser und am Himmel. Nie zuvor hatte ich so viele Sterne gesehen.
    Ein Schauer lief über meine Arme. In wenigen Stunden würde ein ganzes Meer zwischen uns und Deutschland liegen! Und plötzlich war mir egal, dass wir kein Zimmer für die Nacht hatten, plötzlich war der ganze schreckliche Tag wie ausradiert. Plötzlich spürte ich genau, worum Bekka mich beneidete, und ich verstand sie von ganzem Herzen und hätte alles darum gegeben, wenn sie jetzt hätte bei mir sein können.
    Meine Eltern waren unterdessen noch weit davon entfernt, die Aussicht zu genießen.
    »… und im Reisebüro empfehlen sie, von Italien zu fahren!«, platzte Mamu heraus. »Wegen der Zeitersparnis, der großzügigeren medizinischen Untersuchung … ich wusste doch nicht, wie du aus dem Lager kommst, Franz!«
    »Mir ist klar, dass alles meine Schuld ist«, antwortete Papa bitter, was Mamu zu dem Aufschrei veranlasste: »Wie kannst du so etwas sagen? Keiner von uns ist hier an irgendetwas selber schuld, das will ich nie wieder hören!«
    Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Unter den ausladenden Fächern einer Palme hatte, von uns unbemerkt, ein junger Mann am Kai gestanden und wie wir aufs Meer geblickt.
    »Deutsch?«, fragte er und kam näher.
    »Jawohl«, antwortete Papa nach kurzem Zögern und stellte uns vor. Der junge Mann trat seine Zigarette aus, gab uns allen die Hand und erwiderte, er heiße Eddy Fichte und stamme aus Frankfurt am Main.
    Aber das Woher war schon nicht mehr wichtig, wichtig war nur die Adresse, unter der er in Genua abgestiegen war. In seiner Pension war noch ein Zimmer frei.

4
    Obwohl seit November fast sechs Wochen vergangen waren, hatte ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, was aus meinen Träumen geworden war. So verzweifelt ich erst das Zubettgehen, dann das Einschlafen hinauszögerte: Irgendwann erwischte es mich doch und der Wolf hatte seinen großen Auftritt.
    Bei Tag erinnerte ich mich genau, dass es sich nicht um ein Raubtier, sondern einen ganz gewöhnlichen Mann gehandelt hatte, der aß, trank und aufs Klo ging, der Husten und Schnupfen bekam wie andere Leute auch. Aber bei Nacht spielte das keine Rolle mehr, bei Nacht hetzte mich ein Wolf mit glühend gelben Augen, trieb mich zwischen Häusern entlang, deren Türen fest verschlossen waren, und ich spürte heißen, stinkenden Atem in meinem Rücken. Ich war die schnellste Läuferin meiner Klasse gewesen, aber mit jedem Schritt erkannte ich, dass meine Beine mich nicht retten würden.
    Nachdem ich auf dem klapprigen Notbett im Zimmer der Pension die Augen geschlossen hatte, dauerte es nicht lange, bis der Wolf sich um die Ecke schob; wieder und wieder zwang ich mich aufzuwachen, um ihn zu vertreiben. Ich horchte auf den Atem meiner Eltern, auf die Schritte der Schatten in unserem Zimmer, ich versuchte, so lange wie möglich die Augen offen zu halten, aber ich wusste, dass er da war, dass er die ganze Zeit bei uns war und nur zu warten brauchte, bis der Schlaf mich übermannte.
    Meine Albträume hatten eine neue Kulisse. Steil ansteigende, immer enger werdende

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