Nanking Road
getan, was er konnte, es gibt buchstäblich nichts, was er nicht versucht hat!«
»Darum geht es gar nicht, Ziska. Es liegt an ihren Pflegeeltern. Von Anfang an haben sie ganz unverhohlen von Adoption geredet. Als die ersten Berichte von den Lagern kamen, war es praktisch beschlossene Sache. Das Letzte, womit diese Leute gerechnet haben, war, dass Bettis Vater plötzlich lebend wieder auftaucht.«
Ich drückte eine Hand an die Stirn und lehnte mich zurück. Solche Geschichten waren Papas täglich Brot, selbst wenn es in der Kanzlei meist nur um Häuser oder Wertgegenstände ging, die deutschen Freunden zu vermeintlich treuen Händen übergeben worden waren.
»Diese Familie hat nie geschrieben«, erinnerte ich mich. »Alles, was Onkel Erik in Shanghai von Betti erfahren hat, stand in deinen Briefen!«
»Betti war erst fünf. Mr und Mrs Hatchett haben es schnell geschafft, ihre Eltern zu werden.«
»Mein Onkel könnte einen Gerichtsbeschluss erwirken«, sagte ich hart. »Es gibt Familien, die genau das getan haben.«
»Ob die miteinander glücklich werden …?«, zweifelte Bekka.
»Eben. Für Onkel Erik kommt das nicht infrage. Aber es ist so ungerecht, Bekka. Tante Ruth und Evchen …«
Ich holte tief Luft. Meine Stimme klang hohl. »Sie hätten es fast geschafft. Evchen ist mit Fieber und Bauchschmerzen in Berlin abgefahren. Tante Ruth dachte, es sei die Aufregung wegen der Reise. Sie wollten Onkel Erik in Eydtkau treffen, aber so weit sind sie gar nicht gekommen. Er hat sie schließlich in Kaunas aufgespürt, wo Evchen mit Blinddarmentzündung im Krankenhaus lag. Bis sie entlassen wurde, waren alle Fahrkarten ungültig, das Reisegeld verbraucht, die drei standen buchstäblich auf der Straße. Ja, und dort sind sie dann aufgegriffen worden.«
Wenige Meter über unserer Bank hörte ich ein Geräusch. Es klang, als würde ein Fenster ganz behutsam geschlossen, lange bevor die Geschichte zu Ende erzählt war.
Ich konnte es verstehen. Den Rest hätte ich an Bettis Stelle auch nicht hören wollen. Das Ghetto in Kaunas, die Fahrt im Viehwaggon, die Rampe in Auschwitz. Der Todesmarsch zurück nach Deutschland, den Onkel Erik vielleicht nur überstanden hatte, weil er fest daran glaubte, für seine andere Tochter am Leben bleiben zu müssen.
»Ziska«, hörte ich Bekka fragen, »glaubst du eigentlich noch an Gott?«
»Ich glaube, dass es ihn gibt, ja. Aber ich glaube nicht, dass wir wissen, wer er ist. Jede Religion behauptet etwas anderes. Warum? Kann es sein, dass jede nur einen Teil der Wahrheit kennt, ein paar Worte … und erst wenn man sie zusammensetzt, ergeben sie einen Satz?«
Ich setzte mein Teeglas an, als Bekka jäh nach Luft schnappte und meinen Arm ergriff.
»Hast du das gehört?«, stammelte sie. »Eine tiefe Stimme … von ganz oben … und ganz deutlich! Sie sagte: Lob und Dank, endlich bin ich erkannt !«
Ich prustete meinen Tee über die Wiese. Trotz allem, worüber wir gerade gesprochen und geschwiegen hatten, konnten wir auf einmal nicht mehr aufhören zu lachen.
Aber so etwas passierte mir häufig, seit ich zurück in Deutschland war.
Berlin zelebrierte eine große Begrüßung, als wir am Görlitzer Bahnhof aus dem Zug stiegen. Überlebende Verwandte und Freunde erwarteten uns mit Tränen und Umarmungen, Kamerateams der Wochenschau waren gekommen und der stellvertretende Oberbürgermeister hielt eine Rede. Die Zeit der Judenfeindschaft sei vorbei, versicherte er, alle gegenteiligen Behauptungen beruhten auf bedauerlichen Einzelfällen, die nicht dem neuen Geist Deutschlands entsprächen. Herr Friedensburg (ein beruhigender Name) sagte uns die Unterstützung der Stadt Berlin in allen Belangen unserer Wiedereingliederung zu und überreichte zum Schluss feierlich Ausweise. Nachdem wir erst Deutsche, dann Juden, dann Staatenlose gewesen waren, erklärte uns das neue Papier zu Opfern des Faschismus und sprach uns schnelle Entschädigung für erlittenes Unrecht zu.
Allerdings war der Ausweis keine drei Monate gültig. Papas soeben eröffnete Kanzlei wurde gestürmt von ratlosen Juden mit dem Fragebogen des Berliner Magistrats in der Hand. Hatten wir uns illegal oder politisch betätigt? Wann seien wir in welchen KZ gewesen? Tante Irma und Onkel Victor kreuzten unter fast hysterischem Gelächter an, sie hätten in einer »sternpflichtigen Mischehe« gelebt.
Unsere rassische Verfolgung, die von den Amerikanern fast anderthalb Jahre geprüft worden war, wollte der Berliner Magistrat nicht
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