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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sie.
    »Wurde auch langsam Zeit!«, rief ich, um den Lärm zu übertönen.
    »Aber nur drei Tage, wie blöd. Du musst unbedingt wiederkommen und länger bleiben.«
    »In den nächsten Semesterferien vielleicht?«
    »Abgemacht! Siehst du? Schon haben wir mehr Zeit!«
    Über die Schultern anderer Passagiere hinweg erhaschte ich durchs Fenster Blicke auf die Ruinen der Innenstadt von Coventry. Wie weit musste man in diesen Tagen eigentlich reisen, um unversehrte Städte zu sehen? Die Ecke, an der wir aus dem Bus stiegen, war eine jener großflächigen Brachen, die Bomben und anschließende Abbruchkommandos in die Mitte einer Siedlung gerissen hatten. Von Gras, Moos und Wildblumen überwucherte Grundmauern ließen erkennen, wo vor dem Krieg Wohnhäuser gestanden hatten.
    Nach wenigen Schritten wies Bekka auf eins der Grundstücke. »Hier sind Mrs Tatler und ihre Eltern gestorben.«
    »Hast du sie gut gekannt?«
    »Ja, sie war häufig bei uns. Mildred Read war ihre Lieblingstante.«
    Wir gingen auf die Siedlung zu, die wie an einer Abbruchkante in einiger Entfernung aus dem Schutt aufragte. Zu Kies zermahlene Pflastersteine knirschten unter unseren Schuhen, es hatte aufgehört zu regnen und eine sommerliche Mittagsruhe lag über dem Platz. Ich hörte Bienen summen; die Natur war bereits dabei, sich dieses Fleckchen Erde zurückzuholen.
    »Ist Mr Tatler wieder zurück?«, fragte ich.
    »Er will in China bleiben, soweit ich weiß«, antwortete Bekka.
    »Das dürfte nichts werden. Der Bürgerkrieg ist voll entbrannt. Es sieht nicht gut aus für die Kuomintang.«
    »Das sind die, die vom Westen unterstützt werden, nicht wahr? Entschuldige, ich weiß so gut wie nichts darüber.«
    »Du weißt mehr als andere«, erwiderte ich. »Die meisten haben den Namen Kuomintang noch nie gehört.«
    »Wir haben eben unsere eigenen Sorgen. Keiner will mehr etwas wissen vom Krieg – vor allem, wenn er so weit entfernt ist wie China.« Ihr neugieriger Blick streifte mich, während wir weitergingen. »Unglaublich, dass du die ganze Zeit dort unten warst. Was für ein Abenteuer! Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich beneidet habe?«
    »Und ob!« Ich musste lachen. »Immer, wenn es besonders ekelhaft wurde, habe ich mir eingebildet, du würdest gerade das spannend finden. Für eine Weile hat das tatsächlich geholfen.«
    »Aber dann nicht mehr …?«
    Ich blieb stehen. »Dann habe ich nichts mehr von dir gehört.«
    Bekka nickte, ohne mich anzusehen, und ging noch einige Schritte, bevor sie zu mir zurückkam.
    »Ich träume oft, dass alle, die ich kenne, mit einem Mal verschwunden sind. Ich komme nach Hause und dort wohnen andere Leute, ich gehe zur Schule oder zur Arbeit und sehe nur noch fremde Gesichter. Alle kennen mich, ich merke, dass ich irgendwie dazugehöre, aber niemand außer mir erinnert sich, dass eben noch ganz andere da waren …«
    Sie streckte eine Hand aus und drückte meinen Arm, als wollte sie sich vergewissern, ob ich überhaupt echt war. »Vielleicht hört es ja jetzt auf«, sagte sie leise.
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und schob meinen Arm unter ihren, bevor wir weitergingen.
    »Damit eins klar ist«, sagte Bekka nach einigen Sekunden mit festerer Stimme, »wir reden nicht über meine Eltern.«
    »In Ordnung«, versprach ich rasch.
    Das kleine Haus sah genauso aus, wie Bekka es in ihrem ersten Brief aus England beschrieben hatte, die beiden Misses Read allerdings hatte ich mir nicht so alt vorgestellt. Zwei verwitterte Gesichter begutachteten mich durch dicke Brillengläser, eine Schwester wohlwollend, die andere reserviert. Bekka schob Mildred Read den Rollstuhl am Tisch zurecht und übernahm das Kommando über die Teezeremonie, während Marge Read, die ohne Weiteres als eine der gefürchteteren Lehrerinnen der Jewish School hätte durchgehen können, mich über die Lage in Berlin verhörte.
    »Wird eure Währungsreform endlich dazu führen, dass ihr euch selbst versorgen könnt?«, fragte sie streng. »Das Durchfüttern unterlegener Kriegsgegner mag ja völkerrechtlich geregelt sein, aber wir leben hier schließlich selbst noch mit Rationierung.«
    Hätte ich ein weißes Fähnchen mitgebracht, ich hätte es geschwenkt. »Die Regale in den Geschäften sind seit ein paar Wochen wieder voll. Keine Ahnung, woher die Waren über Nacht kamen, aber der Schwarzmarkt spielt praktisch keine Rolle mehr.«
    »Der Schwarzmarkt! Das habe ich mir gedacht.« Miss Read schnaubte. »Wir Engländer geben von unseren

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