Nanking Road
ergänzte ich. »Also entspann dich, Betti, in Ordnung? Ich habe Bekka fast zehn Jahre nicht gesehen und in den wenigen Tagen weiß Gott anderes vor, als mit dir herumzustreiten. Verwandtschaft, was bedeutet das schon? Die meisten Juden müssen jetzt allein zurechtkommen. Kann ich bitte noch ein Sandwich haben, Miss Read?«
»Aber gern!« Marge Read legte mir ein Gurkensandwich auf den Teller, wobei ihr strenges Gesicht ein wenig zuckte. Ich begriff, dass sie mir soeben zuzwinkerte.
Vor zehn Jahren hatte es zu den Selbstverständlichkeiten meiner Freundschaft zu Bekka gehört, dass wir einander fast nichts erklären mussten. Ich konnte kaum fassen, dass es immer noch so war, dass Bekka augenblicklich mitspielte.
»Als Erstes musst du Stephen kennenlernen«, beschloss sie, als hätte das Zwischenspiel mit Betti überhaupt nicht stattgefunden. »Es wird immer ernster zwischen uns. Ich will deine ganz ehrliche Meinung über ihn hören, Ziska!«
»In Ordnung. Ich muss dich allerdings warnen, dass ich in meiner Einschätzung von Männern wenig Glück habe.«
»Ein wichtiger Hinweis, der in die Gesamtbeurteilung einfließen wird«, erklärte Bekka.
Betti bemerkte: »Ich weiß noch nicht, ob ich ihn leiden kann.«
Sie richtete die Worte an niemand Bestimmtes, was mich immerhin nicht ganz ausschloss. Als Bekka daraufhin aufstand und die Tür entriegelte, blieb meine Cousine trotzig sitzen, entschlossen, sich nicht ignorieren zu lassen.
Unbeeindruckt wandte Bekka sich an die Schwestern: »Tante Marge, Tante Mildred, ich weiß, dass es rasend unhöflich ist, aber hättet ihr etwas dagegen, wenn Ziska und ich ein Weilchen in den Garten gehen? Wir haben so viel zu reden über Leute, die ihr gar nicht kennt oder …«, sie nickte in Bettis Richtung, »die euch nicht interessieren.«
»Selbstverständlich, meine Liebe, geht nur«, erwiderte Marge sofort.
Bekkas Ziel war eine Holzbank, die an der Sonnenseite des kleinen Hauses lehnte und einen Blick auf die verwilderten Büsche bot, in denen Vögel geschäftig ihre Nester versorgten. Die Teetassen in der Hand, streckten wir die Beine aus.
»Wie geht es deinen Eltern? Hast du Fotos mitgebracht?«
»Ja, Fotos sind oben in meiner Tasche. Ich soll dich drücken, besonders von Mamu! Es geht ihr gut, sie arbeitet an der Kasse des Deutschen Theaters im sowjetischen Sektor und kann uns fast jede Woche billige Restkarten besorgen. Papa und ich sind dem Theater schon völlig verfallen. Ein, zwei Jahre, und wir haben alles aufgeholt, was wir an Kultur versäumt haben.«
»Ich würde sie so gern wiedersehen, deine Mutter …«
»Bitte, komm! Sie wäre entzückt.«
Bekkas Gesicht verhärtete sich. »Nicht, solange ihr in Deutschland seid.«
Ich ging leicht darüber hinweg; mit dieser Reaktion war ich schließlich bestens vertraut.
»Dann musst du sie eben hierher einladen. Papa hätte wahrscheinlich keine Zeit. Er ist so froh, wieder arbeiten zu können, obwohl er oft das Gefühl hat, eher Seelsorger als Anwalt zu sein. Die meisten Klienten sind am Ende ihrer Kraft, wenn sie zu ihm kommen. Opferrenten, Wiedergutmachung, Rückgabe von enteignetem Besitz und gestohlenen Kunstschätzen … die Behörden arbeiten mit allen Tricks, um die Leute hinzuhalten. Ohne Anwalt bekämen sie oft keinen Pfennig. An zwei Nachmittagen helfe ich in der Kanzlei mit, auf diese Weise kann ich schon mal Erfahrung sammeln.«
»Für deine eigene Kanzlei!« Bekka sah mich anerkennend an.
»Nein, ich möchte in eine andere Richtung. Völkerrecht, Miss Read hat es eben schon erwähnt. Diese Abwesenheit von Recht, die wir erlebt haben, erst in Deutschland, dann in Shanghai … die konnte es nur geben, weil jedes Land für sich bestimmen durfte, was Recht ist. So etwas darf nie wieder geschehen und deshalb haben wir die Vereinten Nationen. Sie beschäftigen Juristen aus aller Welt. Dort will ich dabeisein!«
Bekka lächelte. »Du solltest dich sehen! Du glühst vor Begeisterung.«
»Ich möchte einfach glauben, dass man etwas tun kann, Bekka.«
»Und ich sitze zwar nur in einem langweiligen Büro und tippe, aber ich hoffe, du hast Recht.«
Einige Augenblicke saßen wir schweigend da. Es wäre der Moment gewesen, nach Bekkas Eltern zu fragen.
Sie kam mir zuvor. »Was ist mit Bettis Familie passiert?«, fragte sie rasch.
»Ja, hat sie dir denn nichts erzählt?«
»Sie hat die Briefe deines Onkels nicht einmal geöffnet.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie kann sie ihm die Schuld geben? Er hat alles
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