Naokos Laecheln
entzündetes Fleisch drängte, dessen schwerer, süßlicher Verwesungsgeruch den Garten erfüllte. Ich mußte an Naokos Körper denken. Naokos schöne Haut lag vor mir im Dunkel, zahllose Knospen brachen daraus hervor, und diese kleinen grünen Knospen erzitterten leicht in einem Windhauch, der von irgendwoher herüberwehte. Warum mußte ein so schöner Körper krank sein? Warum konnten sie Naoko nicht einfach in Ruhe lassen?
Ich ging ins Haus und zog die Gardinen zu, aber der Duft des Frühlings, zu dem ich im Augenblick nur Tod und Verwesung assoziierte, strömte ungehindert ins Zimmer. Hinter meinen geschlossenen Vorhängen verspürte ich einen heftigen Abscheu vor dem Frühling. Ich haßte die Ahnung dessen, was dieser Frühling für mich bereithielt, und ich haßte den stechenden Schmerz, den er in mir hervorrief. Noch nie in meinem Leben hatte ich so starken Abscheu vor etwas empfunden.
Drei volle Tage verbrachte ich in einer seltsamen Stimmung, als liefe ich auf dem Meeresboden entlang. Wenn jemand etwas zu mir sagte, konnte ich die Worte nicht richtig hören, und für andere war es ebenso schwierig, mich zu verstehen. Mein Körper fühlte sich an wie von einer festen Membran überzogen, die mich von der Außenwelt abschloß und mir den Kontakt zu ihr unmöglich machte. Zugleich konnten die anderen meine richtige Haut auch nicht berühren. Ich war völlig hilflos, und doch jeder Hilfe unzugänglich.
An die Wand gelehnt saß ich da und starrte gedankenverloren an die Decke. Wenn ich Hunger bekam, knabberte ich an irgend etwas in meiner Reichweite oder trank Wasser. Überwältigte mich meine Traurigkeit zu sehr, betrank ich mich mit Whiskey und schlief. Weder badete ich, noch rasierte ich mich. So vergingen drei Tage.
Am 6. April erhielt ich einen Brief von Midori. Sie schrieb, ob wir uns am 10. April, an dem die Belegfrist an der Uni zu Ende ging, treffen und zusammen zu Mittag essen wollten. Sie habe den Brief so lange wie möglich hinausgezögert, also seien wir jetzt quitt und sollten uns doch wieder vertragen, denn sie habe mich vermißt. Ich las den Brief viermal, konnte aber nicht begreifen, wovon sie sprach. Was bedeutete dieser Brief? Ich war so benebelt, daß ich die Sätze nicht sinnvoll miteinander verknüpfen konnte. Warum waren wir »quitt«, wenn wir uns zur »Belegfrist« trafen? Warum wollte sie mit mir »zu Mittag essen«? Ich hatte den Eindruck, allmählich verrückt zu werden. Mein Bewußtsein erschlaffte wie die kraftlosen Wurzeln einer im Dunkeln gehaltenen Pflanze. Aber selbst in meinem benebelten Kopf war mir klar, daß es so nicht weitergehen konnte. Es mußte etwas geschehen. Da schossen mir plötzlich Nagasawas Worte durch den Kopf. »Bemitleide dich nie selbst. Selbstmitleid ist etwas für Versager.«
Danke, Nagasawa, du bist meine Rettung, dachte ich, holte tief Luft und stand auf.
Seit langem wusch ich wieder einmal meine Wäsche, ging ins öffentliche Bad und rasierte mich, räumte die Wohnung auf, kaufte ein und kochte mir eine Mahlzeit, fütterte die halbverhungerte Möwe, trank nur Bier und machte dreißig Minuten Gymnastik. Als ich beim Rasieren in den Spiegel schaute, entdeckte ich, daß mein Gesicht ziemlich ausgemergelt aussah. In meinen Augen flackerte es beunruhigend, so daß ich mich selbst kaum wiedererkannte.
Am folgenden Morgen drehte ich eine große Runde mit dem Fahrrad. Nach dem Mittagessen las ich Reikos Brief noch einmal. Dann setzte ich mich hin und dachte ernsthaft nach, so wie ich es vorgehabt hatte. Der große Schock, den mir Reikos Brief versetzt hatte, lag in meiner optimistischen Vorstellung begründet, daß Naoko bald gesund sein würde, obwohl Naoko mich selbst gewarnt hatte, daß ihre Krankheit ernster sei, als ich es mir vorstellte, und ihre Wurzeln tiefer lägen. Auch Reiko hatte mir gesagt, man könne nicht voraussehen, was geschehen würde. Trotzdem hatte ich Naoko zweimal besucht und mir eingeredet, sie sei auf dem Wege der Besserung. Ich hatte geglaubt, ihr einziges Problem sei es, genügend Mut aufzubringen, um wieder in die reale Gesellschaft zurückzukehren. Und wenn sie diesen Mut aufbrächte, würden wir es mit vereinten Kräften schaffen.
Nun hatte Reikos Brief die Luftschlösser, die ich auf dieser vagen Vermutung errichtet hatte, zum Einsturz gebracht. Geblieben war nur eine gefühllose, leere Fläche. Ich mußte wieder auf die Füße kommen. Die Zeit, bis Naoko wieder gesund würde, war unabsehbar. Und wenn sie wieder gesund wäre,
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