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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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einem leeren Grundstück an der Westseite des Bahnhofs, wo wir uns zu unserem spontanen Trinkgelage niederließen. Ich erfuhr, daß die beiden in einem Reisebüro arbeiteten und sich dort angefreundet hatten. Sie hatten gerade erst die Handelsschule abgeschlossen, und es war ihr erster Job. Die Kleine hatte seit einem Jahr einen Freund, aber vor kurzem hatte sie herausgefunden, daß er mit einem anderen Mädchen schlief, was ihr sehr zusetzte. Die Größere hätte eigentlich schon am Abend zuvor in ihr Elternhaus nach Nagano zur Hochzeit ihres älteren Bruders fahren sollen, hatte aber beschlossen, den Abend mit ihrer Freundin in Shinjuku zu verbringen und den ersten Expreß am Sonntagmorgen zu nehmen.
    »Aber woher weißt du denn überhaupt, daß er mit einer anderen schläft?« fragte ich das kleinere Mädchen.
    Sie nippte an ihrem Sake und rupfte an dem Unkraut, das zu ihren Füßen wuchs. »Ich hab die Tür zu seinem Zimmer aufgemacht, und da hab ich’s gesehen. Um Wissen oder Nicht-Wissen geht’s nun nicht mehr.«
    »Wann war das?«
    »Vorgestern abend.«
    »Uff«, sagte ich. »Und die Tür war unverschlossen?«
    »Ja.«
    »Warum er wohl nicht abgeschlossen hat?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Das ist doch ein echter Schock, oder? Scheußlich! Was meinst du, wie sie sich jetzt fühlt?« Das größere Mädchen war anscheinend ernstlich besorgt um ihre Freundin.
    »Dazu kann ich nicht viel sagen, aber du solltest dich mit deinem Freund aussprechen. Und dann stellt sich die Frage, ob du ihm verzeihen willst oder nicht«, erklärte ich.
    »Niemand versteht mich«, stieß die Kleine hervor und rupfte weiter Gras aus.
    Ein Schwarm Krähen zog von Westen heran und ließ sich auf dem Kaufhaus Odakyō nieder. Es war nun Tag. Allmählich wurde es Zeit für den Zug nach Nagano. Den restlichen Sake schenkten wir am Westeingang einem Obdachlosen, lösten Bahnsteigkarten und brachten das größere Mädchen zum Zug. Nachdem er außer Sichtweite war, endeten die Kleine und ich in einem nahegelegenen Hotel, obwohl weder sie noch ich besonders wild darauf waren, miteinander zu schlafen, aber es schien notwendig zu sein, einen Abschluß herbeizuführen.
    Im Hotel zog ich mich als erster aus und stieg in die Badewanne. Wie aus Trotz kippte ich mir ein Bier runter. Sie gesellte sich zu mir. So hockten wir zusammen in der Wanne und tranken wortlos unser Bier. Obwohl wir uns redlich Mühe gaben, wurden wir nicht betrunken; müde waren wir auch nicht. Ihre Haut war weiß und zart, und sie hatte sehr schöne Beine. Als ich ihr dafür ein Kompliment machte, schnaubte sie nur.
    Doch im Bett benahm sie sich auf einmal wie ein völlig anderer Mensch. Sie reagierte auf die leichteste meiner Berührungen, stöhnte und wand sich, und als ich in sie eindrang, grub sie ihre Nägel in meinen Rücken, und als sie sich dem Orgasmus näherte, rief sie sechzehnmal nacheinander einen Männernamen – ich zählte genau mit, um meine Ejakulation hinauszuzögern. Danach schliefen wir ein.
    Als ich um halb eins aufwachte, war sie fort. Sie hatte weder einen Brief noch eine Nachricht hinterlassen. Die eine Seite meines Kopfes fühlte sich seltsam schwer an, vermutlich, weil ich zu so ungewohnter Stunde Alkohol getrunken hatte. Um meinen Kater zu vertreiben, nahm ich eine Dusche, rasierte mich, setzte mich dann nackt auf einen Stuhl, trank eine Flasche Saft aus der Mini-Bar und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht Revue passieren. Alles erschien mir seltsam verschwommen und irreal, wie durch zwei, drei Glasschichten hindurch betrachtet, doch zweifellos waren mir diese Dinge wirklich zugestoßen. Auf dem Tisch standen noch die Biergläser, und im Bad lag eine benutzte Zahnbürste.
    Ich aß ein leichtes Mittagessen in Shinjuku und ging dann in ein Telefonhäuschen, um Midori Kobayashi anzurufen. Vielleicht wartete sie ja wieder allein zu Hause auf einen Anruf. Ich ließ es fünfzehnmal läuten, aber niemand hob ab. Zwanzig Minuten später versuchte ich es noch einmal mit dem gleichen Ergebnis. Dann fuhr ich mit dem Bus zurück ins Wohnheim. Im Briefkasten am Eingang lag ein Eilbrief für mich. Er war von Naoko.

5. Kapitel
    »Danke für deinen Brief«, schrieb Naoko. Ihre Familie habe ihn »hierher« weitergeleitet. Er habe sie keineswegs belastet, im Gegenteil, sie habe sich sogar darüber gefreut. Sie habe mir selbst gerade schreiben wollen, aber ich sei ihr zuvorgekommen.
    Nachdem ich bis dahin gelesen hatte, öffnete ich das Fenster, zog

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