Naokos Laecheln
Sie. Während Ihres Aufenthalts hier gehören auch Sie zu uns. Ich helfe Ihnen und Sie helfen mir.« Lächelnd verzog Reiko ihr Gesicht in liebenswerte Falten. »Sie helfen Naoko, und Naoko hilft Ihnen.«
»Was sollte ich denn konkret tun?«
»Das Wichtigste ist Ihre Bereitschaft, zu helfen und Hilfe von anderen entgegenzunehmen. Zweitens müssen Sie ehrlich sein. Keine Schwindeleien und keine Beschönigungen. Sie dürfen nichts vertuschen, was peinlich für Sie sein könnte. Das ist alles.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte ich. »Aber Sie, warum sind Sie schon sieben Jahre hier? Wenn ich so mit Ihnen rede, kann ich gar nicht glauben, daß mit Ihnen etwas nicht stimmt.«
»Nicht am Tag«, sagte sie mit düsterem Gesicht. »Aber wenn es Nacht wird, wälze ich mich mit Schaum vorm Mund auf dem Boden.«
»Wirklich?« fragte ich verdutzt.
»Quatsch, natürlich nicht.« Sie schüttelte spöttisch den Kopf. »Mir geht es gut. Augenblicklich zumindest. Ich bleibe nur hier, weil es mir Spaß macht, anderen zu helfen, auch gesund zu werden. Musikunterricht zu geben und Gemüse zu ziehen, gefällt mir auch. Alle meine Freunde sind hier. Was würde mich demgegenüber draußen schon erwarten? Ich bin achtunddreißig, bald werde ich vierzig sein. Bei mir ist es anders als bei Naoko. Niemand erwartet mich draußen, keine Familie, keine Arbeit, kaum Freunde. Nach den sieben Jahren hier bin ich überhaupt nicht mehr auf dem laufenden. Ab und zu lese ich in der Bibliothek eine Zeitung, aber ich habe seit sieben Jahren keinen Fuß nach draußen gesetzt. Ich wüßte gar nicht, wie ich mich verhalten sollte.«
»Vielleicht würde sich Ihnen eine ganz neue Welt eröffnen? Würde der Versuch sich nicht lohnen?«
»Kann sein.« Unaufhörlich drehte sie in einer Hand ihr Feuerzeug. »Wissen Sie, Herr Watanabe, ich habe auch mein Dilemma. Wenn es Sie interessiert, erzähle ich Ihnen einmal davon.«
Ich nickte.
»Und Naoko? Geht es ihr besser?«
»Wir glauben ja. Am Anfang war sie sehr verstört, und wir haben uns große Sorgen um sie gemacht, aber inzwischen hat sie sich beruhigt und kann immerhin ausdrücken, was sie sagen will… Sie ist auf jeden Fall auf dem besten Weg, aber sie hätte viel früher behandelt werden müssen. Ihre Symptome sind schon kurz nach dem Tod ihres Freundes Kizuki aufgetreten. Die Familie hätte das merken müssen, und auch sie selbst. Natürlich gab es da auch familiäre Probleme…«
»Familiäre Probleme?« fragte ich erstaunt.
»Wußten Sie das nicht?« Reiko war offenbar ebenso überrascht wie ich.
Ich schüttelte wortlos den Kopf.
»Dann fragen Sie lieber Naoko selbst. Sie hat Ihnen ohnehin eine Menge zu sagen.« Reiko rührte wieder in ihrem Kaffee und nahm einen Schluck. »Dann muß ich Sie auf noch etwas aufmerksam machen, was ich besser gleich gesagt hätte. Es ist Ihnen nicht gestattet, mit Naoko allein zu sein. Die Vorschrift erlaubt es nicht, daß Besucher von außen mit den Patienten allein bleiben. Deshalb werde ich immer als Beobachterin anwesend sein. Es tut mir leid, aber es muß sein. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Ich lächelte ihr zu.
»Ihr beide könnt ja trotzdem über alles reden. Kümmert euch einfach nicht um mich. Ich weiß sowieso fast alles über das, was sich zwischen Ihnen und Naoko abgespielt hat.«
»Alles?«
»Fast alles. Durch unsere Gruppensitzungen wissen wir sehr viel voneinander. Außerdem sprechen Naoko und ich über fast alles. Hier gibt es nicht viele Geheimnisse.«
Über meinen Kaffee hinweg schaute ich Reiko ins Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht ganz, was ich Naoko getan habe, als wir in Tōkyō waren. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, aber ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.«
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte Reiko. »Und Naoko auch nicht. Vielleicht können Sie es gemeinsam herausfinden, wenn Sie sich einmal richtig aussprechen. Was immer geschehen sein mag, Sie haben die Möglichkeit, etwas daraus zu machen, wenn Sie es schaffen, zu einem gegenseitigen Verständnis zu gelangen. Erst dann sollten Sie sich Gedanken darüber machen, was richtig oder falsch war.«
Ich nickte.
»Wir können uns auch zu dritt zusammensetzen, Sie, Naoko und ich. Wenn wir wirklich wollen und ehrlich zueinander sind, könnten wir zu dritt sehr viel erreichen. Wie lange können Sie bleiben?«
»Ich wäre übermorgen abend gern wieder in Tōkyō. Ich muß arbeiten, und am Donnerstag habe ich eine Deutsch-Prüfung.«
»Gut, Sie können
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